Analyse von Ulrich Reitz - Die Deutschen und der Krieg: Hier kommt Olaf Scholz' letzte große Wette

Olaf Scholzhat nun die erste offizielle Hürde genommen, um eine Selbstverständlichkeit für sich zu erreichen: die Nominierung als Kanzlerkandidat aus der Position des Bundeskanzlers durch den Parteivorstand. Alles andere wäre allerdings auch einem Putsch gleichgekommen – wie damals bei Helmut Schmidt.

Für den sozialdemokratischen Bundeskanzler, der zwischen 1974 und 1982 amtierte und erst danach zur Ikone wurde, kam nach seinem Sturz durch ein konstruktives Misstrauensvotum eine neue Kanzlerkandidatur nicht mehr in Frage: Die SPD hatte ihm auf ihrem Kölner Parteitag bei seinem wichtigsten verteidigungspolitischen Projekt, der Nato-Nachrüstung, den Boden unter den Füßen weggezogen.

Der Kurs des Kanzlers im Ukraine-Krieg

Auch jetzt geht es wieder um eine zentrale Frage der Verteidigungspolitik – den Kurs des Kanzlers im Ukraine-Krieg. Aber dieses Mal hat die SPD keinen Anlass für einen Putsch aus inhaltlichen Gründen: Sie trägt die Linie von Scholz voll mit.

Falls sie geputscht hätte, dann nur wegen der fehlenden Beliebtheit des Kanzlers im Wahlvolk. Aber der Preis wäre gewesen, Scholz durch Boris Pistorius zu ersetzen, also einen Kanzlerkandidaten zu installieren, der eine Linie vertritt, für die damals Helmut Schmidt geschasst wurde.

Inhaltlich wäre Pistorius für die SPD nahezu unverdaulich gewesen, jedenfalls muss sie davon ausgehen, auch wenn Pistorius bislang noch nicht in einen offenen Konflikt gegangen ist. Einmal nur wagte er sich rhetorisch nach vorne – und wurde auch prompt zurechtgewiesen: für seine Forderung, Deutschland müsse „kriegstauglich“ werden durch den SPD-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich. Seitdem hat er das Wort aus seinem Sprachschatz gestrichen.

Eine Option, die Pistorius Scholz voraushat

Scholz sagte an diesem Montag über Pistorius, „wir beide sind seit sehr, sehr langer Zeit befreundet“. Wobei ein jeder den Unterschied zwischen einem „Freund“ und einem „Befreundeten“ kennt: Auf den Freund ist in jedem Fall Verlass. Pistorius, der „Befreundete“, bleibt ein Stachel im Fleisch von Scholz.

Und dies mindestens bis zum 11. Januar, wenn Scholz als Kanzlerkandidat einen SPD-Parteitag überleben muss. Bleiben bis dahin die Umfragen für seine Partei im Keller, weiß man nicht, was passiert. Und von Pistorius weiß man auch nur eines gewiss: Das einzige Amt, das er nicht haben will, ist: Papst.

Pistorius hat jedenfalls seine Karriere-Option gewahrt, wenn nicht sogar optimiert: bei einer Wahlniederlage in einer so genannten Großen Koalition in einem Kabinett von Kanzler Friedrich Merz Verteidigungsminister bleiben zu können. Eine Option, die Pistorius Scholz voraushat. Denn der wäre nach einer Niederlage weg. Für Pistorius hat sich also dieses kleine Spiel mit der SPD-Kanzlerkandidatur schon gelohnt.

Scholz bleibt nur eine Chance: Er muss Merz schlagen. Heute wurde der Kanzler gefragt, was denn mit Robert Habeck sei, der doch schließlich auch als Kanzlerkandidat antrete. Es gehe im Februar bei der Bundestagswahl nur um „Olaf Scholz oder Friedrich Merz“. Soweit die Wahrnehmung von Habeck durch Scholz.

Habeck kann Scholz egal sein

Und in der Tat: Habeck kann Scholz egal sein. Landet der grüne Kanzlerkandidat vor dem Roten, wäre Scholz quasi gleich doppelt weg. Das gelte auch für den Fall, dass der Grüne vor dem Schwarzen landen würde. Also bleibt Scholz auch im Verhältnis zu Habeck nur diese eine Option: Er muss ihn schlagen. Er muss also beide schlagen, den Grünen wie den Schwarzen.

Habeck dagegen muss nur Scholz schlagen, das macht einen wichtigen Unterschied. Habeck kann politisch überleben auch als Minister, wenn er gegen Merz verliert. Anders als Scholz.

Das will der Amtsinhaber erreichen mit einer Erzählung, die sich gegen die einzige wirklich ausschlaggebende schwarz-grüne Gemeinsamkeit richtet: seinen Kurs im Ukraine-Krieg. Die Erzählung, die es laut Scholz „nur bei der SPD gibt“, lässt sich auf eine Formel bringen: größte Unterstützung minus geringste Eskalation gleich Besonnenheit.

Damit ist auch die Herausforderung der Konkurrenten beschrieben: Habeck, Merz und Alice Weidel – Sahra Wagenknecht mag nicht Kanzlerkandidatin sein, wo es doch schon so viele gibt.

Zweifel, ob die Erzählung von Scholz fachlich überhaupt stimmt

Für den „Friedenskanzler“, als den Scholz sich inszeniert, ist weder Weidel noch Wagenknecht beizukommen. Ihre Art von „Frieden“ kann Scholz nicht propagieren, denn der liefe auf eine militärische Kapitulation der Ukraine vor Russland hinaus.

Allerdings wehrt sich auch die Union dagegen, dass ihre Optionen als „Kriegstreiberei“ verunglimpft werden: die Lieferung von Taurus-Mittelstreckenraketen an die Ukraine ebenso wie die Erlaubnis von Angriffen mit deutschen Waffen auf russisches Territorium – jedenfalls auf militärische Ziele.

Tatsächlich nährt die Union Zweifel, ob die Erzählung von Scholz fachlich überhaupt stimmt. Denn: Scholz sagt, Deutschland unterstütze die Ukraine wie kein anderes Land in Europa. Nur: Das hängt davon ab, wie man rechnet. In absoluten Zahlen stimmt das. Aber Deutschland ist schließlich auch das bevölkerungsreichste Land in Europa. Muss man also nicht als Referenz die Hilfe pro Kopf rechnen?

Man kann das auf dem Ukraine-Hilfs-Tracker des Kieler Instituts für Weltwirtschaft nachschauen. Demnach ist Deutschland in Europa nicht auf Platz Eins, sondern: auf Platz 15. Anders gesagt: Dänemark liefert pro Kopf 13 Mal so viel. Und 70 Prozent dessen, was Deutschland für die Ukraine tut, bleibt im Ergebnis in Deutschland – es ist die Hilfe für die mehr als eine Million Flüchtlinge.

Kiesewetter haut dem Bundeskanzler eines seiner Hauptargumente um die Ohren

Was die Leistungsbehauptung von Scholz schon einmal erheblich schrumpft. Noch kleiner wird sie, geht man der Argumentation von Scholz bei den Marschflugkörpern auf den Grund. Scholz sagt etwa, der Taurus sei nur von deutschen Soldaten zu programmieren.

Militärexperten wie Gustav Gressel sagen, das sei längst widerlegt – auch ukrainische Soldaten seien in der Lage, den Stier zu programmieren. Man müsse es ihnen nur beibringen. Das dauert ein halbes Jahr, weshalb Roderich Kiesewetter empfiehlt, damit sofort anzufangen. Was Scholz ablehnt.

Kiesewetter ist nicht nur der konsequenteste Ukraine-Unterstützer, sondern auch der parteipolitisch Unabhängigste, einem Direktmandat sei Dank. Wer sein Bundestagsmandat der Volkswahl verdankt, kann freiheitlicher von der Parteiführung agieren als jemand, der sein Auskommen im Parlament seiner Partei verdankt. Die fordert in streitigen Lagen dann Gehorsam ein, weshalb Kiesewetter für jeden Parteichef eine Herausforderung bleibt. Der gegenwärtige heißt Merz.

Jedenfalls haut Kiesewetter dem Bundeskanzler eines seiner Hauptargumente kenntnisreich um die Ohren. Die „Eskalationsangst“ nimmt der CDU-Mann dem SPD-Kanzler nicht ab – „wenn Briten und Franzosen vergleichbare Systeme liefern und die USA Atacams (Marschflugkörper) freigegeben haben“.

Scholz könne auch nicht behaupten, stets „im Gleichschritt“ mit den Verbündeten vorzugehen, denn die gingen inzwischen doch klar voran. Was selbst für den vorsichtigen Joe Biden gilt.

Schließlich dieses Telefonat mit Putin

Und was für Scholz die „Besonnenheit“ ist, nennt Kiesewetter abwechselnd „scheinbare Besonnenheit“ und „unterlassene Hilfeleistung“. Scholz hätte wesentlich mehr tun können. Umgerechnet auf pro Kopf zahle jeder Deutsche allenfalls 50 Euro für die militärische Unterstützung an die Ukraine.

Schließlich dieses Telefonat mit Putin – ein nutzloser, vielleicht sogar schädlicher Anruf. Denn Scholz hatte als Verhandlungsmasse nichts zu bieten und Wladimir Putin eskalierte nach dem Anruf von Scholz die Angriffe auf die Ukraine noch einmal drastisch.

Sie werden den „Friedenskanzler“ Scholz in die Zange nehmen: AfD und BSW wegen zu großer Gegnerschaft zu Russland, Union, FDP – und nicht zu vergessen: die Grünen – wegen zu kleiner Freundschaft zur Ukraine.

Scholz hat, von allen Ampelanern verlassen, seinen Ukraine-Kurs exklusiv. Das wird der Kanzler zur heroischen Leistung verklären. Aber Scholz hat Deutschland auch isoliert. Einsamkeit, das ist der Preis, den man als Held halt zahlen muss.

Ob die Deutschen ihm seine Story glauben? Es ist Olaf Scholz' letzte große Wette.