Staatsministerin Alabali-Radovan zur Bezahlkarte: „Debatte über Pull-Faktoren nicht zielführend“

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Die Bundesbeauftragte für Migration sagt im Interview: Die Bezahlkarte für Geflüchtete halte niemanden ab, nach Deutschland zu kommen. Sie fordert stattdessen eine neue Integrations-Maßnahme.

Berlin – Die Baustelle am Reichstag trübt die phänomenale Aussicht nur minimal: Von ihrem Büro im Bundeskanzleramt aus blickt Reem Alabali-Radovan über Berlin-Mitte, am Horizont glitzert der Fernsehturm. Die 33-Jährige hat innerhalb weniger Jahre eine außergewöhnliche Karriere hingelegt. 2021 trat die ehemalige Integrationsbeauftragte von Mecklenburg-Vorpommern in die SPD ein, wurde direkt in den Bundestag gewählt. Noch im selben Jahr benannte Kanzler Olaf Scholz sie zur Staatsministerin und Beauftragten für Migration und Flüchtlinge.

Dabei hatte sie selbst keinen Bilderbuchstart in Deutschland, kam als Flüchtlingskind aus dem Irak hierher. Kurz vor der Integrationsministerkonferenz spricht sie im Interview über die deutsche Willkommenskultur, Arbeitsverbote für Asylbewerber und fordert, dass Integration zur Pflichtaufgabe für Kommunen werden muss.

Ihre Familie ist in den 90er-Jahren aus dem Irak nach Deutschland gekommen. Aus Ihrer eigenen Erfahrung: Hat Deutschland eine Willkommenskultur?

Ja, auf jeden Fall. Sie geht ganz besonders von zivilgesellschaftlichen Akteuren und Ehrenamtlichen aus. Das trägt unsere Integrationspolitik. Seit den 90ern hat sich da in vielen Bereichen etwas verändert.

Was hat sich denn verändert?

Als wir nach Deutschland gekommen sind, gab es anders als heute keine Integrationskurse. Kaum jemand konnte einen Sprachkurs machen. Völlig absurd. Ich wurde damals auch ohne Vorbereitung einfach so in die Schule geworfen, es gab keine Willkommensstrukturen oder Migrationsberatungsstellen, die Eingewanderte und Geflüchtete wie heute bei Fragen zum Alltag in unserem Land unterstützen. Da hat sich also einiges verbessert in den letzten Jahren.

Sie sind seit zwei Jahren auch Antirassismusbeauftragte. Haben Sie selbst persönlich Rassismuserfahrungen in Deutschland gemacht?

Wie vermutlich jede Person mit offensichtlicher, familiärer Einwanderungsgeschichte habe ich auch Rassismus erlebt. In meinem Amt geht es mir darum, das große Ganze zu sehen. Also auch den strukturellen Rassismus zu bekämpfen und für Betroffene da zu sein. Deshalb habe ich ein bundesweites Beratungsnetzwerk gegen Rassismus gestartet und als eine meiner ersten Tätigkeiten einen Lagebericht zu Rassismus in unserem Land erstellen lassen. 

Antirassismus-Beauftragte Reem Alabali-Radovan
Reem Alabali-Radovan ist seit 2021 Staatsministerin und Beuaftragte der Bundesregierung für Migration und Flüchtlinge. © Paul Zinken/dpa

Worum geht es da?

Das war das erste Dokument des Bundes, in dem struktureller Rassismus als Begriff schwarz auf weiß auftaucht und untersucht wird. Struktureller Rassismus passiert oft auch unbewusst, ob auf dem Arbeitsmarkt oder bei der Wohnungssuche. Auch diese Dimension von Rassismus möchte ich aufzeigen und bekämpfen. 

Das Innenministerium hat kürzlich einen Lagebericht zu Muslimfeindlichkeit herausgegeben. Beobachten Sie, dass die Muslimfeindlichkeit seit dem 7. Oktober gestiegen ist?

Wir beobachten einerseits eine besorgniserregende Erhöhung von antisemitischen Straftaten, aber in der Tat auch von antimuslimischem Rassismus. Synagogen werden angegriffen, gleichzeitig werden Moscheegemeinden bedroht. Das ist eine Lage, die mich sehr beunruhigt, dagegen müssen wir uns wehren – die Sicherheitsbehörden sind da wachsam. 

Sie plädieren für ein neues Wir-Gefühl. Was genau meinen Sie damit? 

Wir brauchen ein neues, deutsches Wir-Gefühl, das alle Gruppen unserer Gesellschaft mitmeint. Deutschland ist schon lange Einwanderungsland. Wir tun uns aber noch schwer damit, auf unsere Vielfalt stolz zu sein. Vielfalt ist unsere Stärke und dafür brauchen wir einen neuen Spirit. 

Was halten Sie von dem Wort Leitkultur? 

Der Begriff ist schon immer negativ behaftet und die spaltenden Diskussionen der letzten Jahre haben gezeigt, dass das nicht der richtige Weg ist. Ich finde, das können wir hinter uns lassen und neue gemeinsame Wege finden.

Für Asylbewerber und Menschen mit Duldungsstatus gilt in Deutschland ein Arbeitsverbot. Ist das noch zeitgemäß? 

Ganz klar nein, deshalb hat die Bundesregierung zum Beispiel das Arbeitsverbot für Asylbewerbende von neun auf sechs Monate reduziert, wenn sie in einer Aufnahmeeinrichtung wohnen. Sonst können sie bereits nach drei Monaten arbeiten. Und Ausländerbehörden sind jetzt auch angehalten, Menschen mit Duldung eine Arbeitserlaubnis zu erteilen. Das ist jetzt eine Soll-Bestimmung, keine reine Ermessensfrage mehr – ein kleiner Unterschied mit hoffentlich großer Wirkung. Zudem haben wir das Chancenaufenthaltsrecht eingeführt, dafür habe ich sehr gekämpft. Viele Menschen mit Duldung können sich damit eine Brücke in sicheren Aufenthalt bauen, 59.000 machen das schon, eine gute Bilanz.

Es gibt eine These, laut der die sogenannte Clan-Kriminalität in Berlin oder im Ruhrgebiet auch deshalb entstanden ist, weil Familien über Generationen mit Duldungsstatus leben mussten und wenig Perspektiven hatten. Ist da was dran? 

Es geht dabei um organisierte Kriminalität. Gut ist, dass die Bundesländer und Innenministerin Nancy Faeser diese noch härter bekämpfen. Ich finde aber den Begriff „Clan“ schwierig, weil er Stereotype bedient und Rechtspopulisten damit pauschal alle Menschen mit Einwanderungsgeschichte attackieren. Generell war es keine gute Idee, Menschen über Jahrzehnte hinweg mit Arbeitsverboten zu belegen, das war unmöglich und darf nicht nochmal passieren. 

In Thüringen hat ein Landrat eine Arbeitspflicht für Asylbewerber eingeführt. Wie finden Sie das?

Das ist nicht neu, da geht es um sogenannte Arbeitsgelegenheiten, die sind schon seit 1993 laut Asylbewerberleistungsgesetz möglich. Dafür gibt es derzeit 80 Cent in der Stunde und das ist nicht mit einer regulären Arbeit zu verwechseln. Mit Blick auf Integration und unseren Fach- und Arbeitskräftemangel wäre es besser, wenn Menschen so schnell es geht regulär und selbstbestimmt arbeiten können – viele Asylbewerbende sind topmotiviert, wollen ihren Lebensunterhalt selber verdienen. 

Wie finden Sie das Konzept der Bezahlkarte für Geflüchtete

Das war ein Wunsch der Länder, den der Bund mit umsetzt. Wichtig ist mir, dass die Bezahlkarten diskriminierungsfrei gestaltet werden, mit weniger Bürokratie, das ist das eigentliche Ziel. Nicht zielführend ist die Debatte über angebliche Pull-Faktoren, die wir vermeintlich mit einer Bezahlkarte bekämpfen würden. Umfragen und Studien zeigen, dass anteilige Bar-Leistungen wirklich kein Grund sind, warum Menschen zu uns fliehen. Im Senegal sagten zum Beispiel nur elf Prozent der Befragten, dass die Aussicht auf Sozialleistungen ein Grund für ihre Migrationsabsicht sei.

Aktuell leben 1,2 Millionen Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland. Sie genießen den vorübergehenden EU-Schutz. Geflüchtete aus Afghanistan oder Syrien hatten den nicht, viele fühlen sich ungerecht behandelt. Was sagen Sie diesen Menschen? 

Da muss ich immer erst klarstellen, dass wir ukrainische Geflüchtete nicht besser gestellt haben, sondern gleichgestellt mit zum Beispiel anerkannten syrischen Flüchtlingen. 

Die syrischen Flüchtlinge mussten aber durch den ganzen Asylprozess, die Ukrainer nicht. 

Ja, weil erstmalig die EU-Richtlinie in allen Mitgliedsstaaten aktiviert wurde, die das für Menschen aus der Ukraine möglich gemacht hat. Das zeigt, wozu die EU in der Lage ist, wenn sie sich einig ist. Hier sehen wir, wie gut Integration von Anfang an funktioniert, wenn man den Menschen sofort einen klaren Aufenthaltsstatus und Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht. Das sollten wir für alle Geflüchteten ermöglichen. 

In einem Jahr läuft dieser Status aus. Wie geht es dann weiter für die Geflüchteten aus der Ukraine? Viele werden bleiben wollen. 

Ja, wir haben den Status um ein Jahr verlängert, und es ist unser Ziel, dass es auch anschließend EU-weit eine einheitliche Regelung gibt. Mir ist wichtig, dass wir das schnell klären. Deutschland steht weiterhin zur Aufnahme der ukrainischen Geflüchteten und wir werden da eine gute Lösung finden.

Es wird immer wieder zu Migrationsbewegungen in Europa und nach Europa kommen. Wie stehen Sie dazu, Zuwanderungsabkommen mit Ländern zu schließen, um eine geordnete Zuwanderung zu erleichtern? 

Wir haben erstmalig mit Joachim Stamp einen Sonderbevollmächtigten für Migrationsabkommen. Er führt mit vielen Ländern Gespräche, erste Abkommen gab es mit Indien, auch mit Georgien. Migrationsabkommen sind auf jeden Fall ein Weg, den wir verstärken müssen. Mit Moldawien, Kenia, Kolumbien und weiteren Staaten laufen da Gespräche.

Viele Kommunen fühlen sich bei der Aufnahme von Geflüchteten von der Bundesregierung alleingelassen. Was erwidern Sie? 

Wir nehmen das in der Bundesregierung sehr ernst, das ist eine gemeinsame Kraftanstrengung. Darum haben wir erstmalig eine dauerhafte Finanzierung des Bundes, mit festem Betrag pro Asylbewerbenden als atmenden Deckel vereinbart, der je nach Lage angepasst wird. Dieses Geld kann im Föderalismus vom Bund nicht direkt an die Kommunen gehen, darum ist es wichtig, dass die Länder es Eins-zu-Eins direkt an die Kommunen weitergeben. Ich schlage vor, dass Integration endlich als kommunale Pflichtaufgabe in den Ländern verankert wird, damit die Kommunen mehr Planungssicherheit bekommen und nachhaltige Strukturen aufbauen können.

Sie boxen privat gern. Kommen Sie noch dazu? 

Ehrlicherweise schaffe ich das zeitlich leider kaum noch. Aber ich nehme mir vor, wieder öfter in der Boxhalle zu sein. 

Was reizt Sie denn am Boxsport?

Die Gemeinschaft. Boxen ist zwar kein Mannschaftssport, aber ich fühle mich in Boxhallen sehr wohl, weil da Menschen mit allen möglichen Herkünften und aus allen Schichten zusammenkommen, und sich komplett auf Augenhöhe mit Respekt begegnen. Es ist in der Boxhalle egal, was man beruflich macht, wo man herkommt, wie alt man ist. Das ist eine tolle Erfahrung.

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