Putins Piloten geistern durch den toten Winkel: Ukraine schnappt nach Luft am Himmel
Über der Ukraine tobt der Krieg so intensiv wie am Boden. Russlands Luftwaffe ist im dritten Kriegsjahr aufgewacht; und kassiert gleich herbe Dämpfer.
Moskau – Militärexperten hatten sich die Augen gerieben ob des makellosen Himmels: Kein Flieger war zu sehen – jedenfalls hatte Russland zu Beginn des Ukraine-Krieges keine Ambitionen auf die Lufthoheit über der Ukraine. Jetzt scheinen sie die zu haben; und auch gleich wieder zu verlieren, wenn der Kiew Post zu glauben ist: Die Verteidiger wollen ein Mittel gefunden haben, um Wladimir Putins Piloten in Sicherheit zu wiegen, während deren Luftabwehr heranschießt und sie vom Himmel holt. Trümmerteile sollen Hinweise auf die Achillesferse der russischen Luftwaffe gegeben zu haben.
Laut Kiew Post sollen ukrainische und mit ihnen verbündete internationale Techniker nach mehr als einem Jahr der Forschung aus Überresten mehrerer erbeuteter russischer Flugzeugteile herausgefunden haben, wie die Avionik und die elektronischen Verteidigungssysteme der russischen Kampfjets zu knacken sind. Der Begriff Avionik ist ein Konstrukt aus Aviatik (vom lateinischen avis = Vogel) und Elektronik und bezeichnet die Gesamtheit der elektrischen und elektronischen Geräte an Bord eines Fluggerätes, einschließlich der elektronischen Fluginstrumente.
Das ukrainische Militär schweigt allerdings dazu, wie genau ihrer Luftabwehr der Abschuss von bisher mindestens 13 der fortschrittlichsten Kampfflugzeuge Russlands gelungen ist. Russlands Luftwaffe könne von Anfang Zweifel gehabt haben, dass sie in der Lage sei, groß angelegte Einsätze sicher mit der Aktivität bodengestützter Raketen eigener Bodentruppen zu verknüpfen, vermutet das Royal United Services Institute für Verteidigungs- und Sicherheitsstudien (RUSI). Und jetzt scheinen sie auch noch vor der Schlagkraft der ukrainischen Luftverteidigung in die Knie gehen zu müssen.
Beängstigend für beide Kriegsgegner: Die Luftschlacht kostet die letzten Ressourcen
Seit mehr als 30 Jahren schon sollen Zwischenfälle allein mit Eigenbeschuss durch bodengestützte Raketen in zahlreichen Konflikten ein Problem für westliche sowie russische Luftstreitkräfte gewesen sein, behauptet das RUSI – was sich laut der Kiew Post wohl wieder bestätigt haben soll. Zwischen dem 17. und 29. Februar hatte die russische Luftwaffe in Gefechten an der Front plötzlich und in rasantem Tempo Flugzeuge und Piloten durch Raketen zu verlieren begonnen – ob ausschließlich ukrainische Raketen die Ursache der Abstürze gewesen waren oder auch Feuer eigener Batterien ist kaum zu überprüfen. Nach Angaben des ukrainischen Militärs belief sich die Zahl der Abschüsse in Kiew bis zum 1. März auf elf Su-34-Angriffsflugzeuge sowie zwei Su-35-Luftüberlegenheitsflugzeuge, die allein 85 Millionen US-Dollar pro Stück kosten.
Eine beängstigende Situation für beide Kriegsgegner: Laut dem Magazin Forbes stellt dies einen schweren Schlag für die russischen Streitkräfte dar, da sie aufgrund ausländischer Sanktionen Schwierigkeiten haben, mit der Produktion Schritt zu halten, und nur ein paar Dutzend neue Kampfflugzeuge pro Jahr fertigstellen können. Forbes: Die Russen verlieren ihre Kampfjets 20 Mal schneller, als sie sie ersetzen können. Einen der Gründe für die ukrainischen Erfolge in der Luft sehen verschiedene Medien darin, dass den Verteidigern Ende Februar der Abschuss eines A-50U Radarflugzeugs gelungen sein soll, nachdem bereits wohl bereits zuvor ein erstes Flugzeug zur Koordination von Luftangriffen vom Himmel geholt worden war; das wiederum schränkte die Überwachungsfähigkeit der russischen Luftwaffe erheblich ein, sodass sie gegen ukrainische Flugabwehrraketen nahezu blind wurden.
Beängstigend für die Welt: Der Ukraine gehen die Raketen aus
„Die ukrainische Luftwaffe will offenbar ihre letzten paar US-Patriot- und ihre NASAMS-Raketen (Norwegian Advanced Surface-to-Air Missile System) einsetzen, um die russische Luftwaffe zu dezimieren und zukünftige Bombenangriffe zu verhindern“, fügte Forbes hinzu. Ähnlich wie die Situation mit Gewehrmunition oder Artillerie-Granaten gestaltet sich die Situation mit Boden-Luft-Raketen: Jeder Einsatz schmälert die Bestände – ungeachtet eines Erfolgs oder eines Fehlschusses. Auch in der Luft liefern sich beide Seiten einen gnadenlosen Abnutzungskrieg.
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Trotz dessen: Letztendlich vermuten ukrainische Militärs, dass Moskaus Bodenangriffsflieger an der Front manchmal überhaupt nicht gewusst hätten, dass sie überhaupt ins Visier genommen wurden – sie waren durch einen toten Winkel ihrer eigenen Aufklärung geflogen. Der österreichische Luftfahrt-Journalist Tom Cooper hält für wahrscheinlich, dass die jüngste Serie von Abschüssen russischer Suchoi-Maschinen daran liegt, dass ukrainische sowie US-Techniker die Verteidigungs-Elektronik der russischen Maschinen außer Gefecht gesetzt hätten und die ukrainischen Luftabwehr-Systeme deshalb quasi wie aus dem Nichts heraus hätten angreifen können. Für Russland ist die Situation insofern fatal, als der Kreml offenbar gerade begonnen hatte, seine Luftstreitkräfte offensiver einzusetzen.
Beängstigend für die Ukraine: Putins Luftwaffen fliegt vermehrt Einsätze
Den Anstieg der russischen Verluste vermutet Yurii Ihnat ansatzweise in den Versuchen Moskaus, mit seinen Truppen nach der Eroberung von Awdijiwka westwärts zu drängen, und durch russische Angriffsflugzeuge unterstützen zu lassen; laut dem Sprecher der ukrainischen Luftwaffe gegenüber der Kiew Post hätten diese Offensivbemühungen die russischen Flieger wiederholt in Lufthinterhalte der Ukraine geraten lassen, wogegen sie vorher auf Biegen und Brechen versucht hätten, außerhalb der Reichweite der ukrainischen Luftabwehr zu bleiben. Dadurch würden auch wieder die Schwächen der russischen Führung offengelegt, vermuten die britischen Wissenschaftler vom RUSI.
Bisher haben die russischen Streitkräfte in allen Bereichen eine äußerst schlechte Koordination gezeigt, von grundlegenden Logistikaufgaben über die Koordinierung von Luftangriffen mit Bodentruppenaktivitäten bis hin zur Bereitstellung von Luftverteidigungsschutz für die marschierenden Kolonnen. In diesem Zusammenhang könnte eine Umstellung der Taktik erfolgt sein: also die verstärkte Einbeziehung der Luftwaffe in Aktivitäten am Boden. Ohnehin hatte Russlands anfängliches Verhalten den westlichen Militärs Anlass zum Rätselraten gegeben, wie die Neue Zürcher Zeitung schreibt.
Deren Erwartung hatte darin bestanden, dass die russischen Luftstreitkräfte schon in der ersten Phase des Krieges eine zentrale Rolle hätte spielen müssen. Typischerweise liegt der Sinn des Einsatzes eigener Luftstreitkräfte darin, die Flugzeuge des Gegners und dessen Flugabwehr so weit wie möglich auszuschalten. Ist die Lufthoheit errungen, können anschließend Bodentruppen ohne Gefahr vorstoßen. Zudem lassen sich dann Kampfjets, Bomber und Drohnen ungehindert zur Bekämpfung der gegnerischen Streitkräfte einsetzen. Offenbar hat sich Russland erst Anfang des dritten Kriegsjahres dazu durchgerungen – und gleich einen massiven Dämpfer seines Ansinnens nach Lufthoheit kassiert.
Beängstigend für für Russlands Piloten: Raketeneinschläge quasi aus dem Nichts
Die Stärke der russischen Luftwaffe rund um die Ukraine soll bei anfangs 300 Maschinen gelegen haben, die amerikanischen Geheimdienstler hatten tatsächlich rund 200 Einsätze pro Tag wahrgenommen, aber kaum einer davon soll wohl direkte Kampfhandlungen mit ukrainischen Truppen gegolten haben: „Diese Taktik deutet darauf hin, dass die russische Luftwaffe trotz ihrer Übermacht große Vorsicht walten lässt. Die Ukrainer verfügen nach Einschätzung des Pentagons zumindest in Teilen des Landes weiterhin über eine schlagkräftige Flugabwehr. Dabei hat die Abwehr vom Boden her eine viel größere Bedeutung als die Verteidigung durch die ukrainische Luftwaffe. Nach amerikanischer Einschätzung sind 80 Prozent der ukrainischen Kampfjets unversehrt, aber sie kommen wegen der Gefahr eines Abschusses wenig zum Einsatz“, schreibt die NZZ.
Sowohl die Su-34 als auch die Su-35 verfügen neben ihrem Radar zum Identifizieren von Zielen in der Luft und am Boden über Mittel der Elektronischen Kriegführung, die die Jets gegenüber dem feindlichen Radar unsichtbar machen sollen sowie einen Störsender. Der Pilot wird akustisch und visuell darüber informiert, wenn diese Systeme ausfallen oder eine tatsächliche Bedrohung wie ein Radarstrahl oder eine feindliche Rakete sein Flugzeug aufs Korn genommen haben. Der österreichische Journalist Tom Cooper vermutet nun, die Ukrainer haben die Frequenzen der russischen Jets derart manipuliert, dass deren Warnungen ausbleiben und sich die Piloten fälschlich bar jeder Gefahr wähnen.
Abgesehen von ganzen Flugzeugen sind die ukrainischen Streitkräfte wohl schon länger im Besitz solcher sicherheitsrelevanten Flugzeug-Komponenten, die als Grundlage für die Forschung an und die Entwicklung von Gegenmaßnahmen dienen. Zu den am häufigsten gemeldeten Beutestücken gehörte die Bergung einer RTU 518-PSM-Selbstschutz-Störkapsel, eines Verteidigungssystems an einem abgestürzten Su-30-Kampfflugzeug durch ukrainische Truppen im September 2022. Sowohl die Su-34 als auch die Su-35 tragen normalerweise die Kapsel.
Noch gehört der Himmel über der Ukraine keiner von beiden Kriegsparteien. Aber Yurii Ihnat ist überzeugt, dass russische Piloten künftig mit starken Zweifeln aufsteigen werden, wie er der Kiew Post gegenüber geäußert hat: Ab jetzt sollten russische Piloten, die sich ukrainischen Stellungen nähern, „zweimal darüber nachdenken“.