Schattenseite von Merz‘ Abschiebeoffensive: Kind direkt nach Herz-OP abgeschoben
Die Zahl der Abschiebungen steigt. Beobachter berichten von traumatischen Erlebnissen und Kindeswohlgefährdungen – und fürchten eine hohe Dunkelziffer.
Düsseldorf/Berlin – Im großen Stil abschieben – das versprach Ex-Bundeskanzler Olaf Scholz 2023. Spätestens seitdem ist die deutsche Migrationspolitik rigoroser und hat unter der schwarz-roten Bundesregierung von Kanzler Friedrich Merz (CDU) erst recht an Schärfe zugenommen. Im letzten Jahr sind 20.084 Menschen aus Deutschland abgeschoben worden, im Vorjahr waren es etwas über 16.000. Rund jede fünfte Person davon war ein Kind.

Unabhängige Beobachter berichten immer wieder über Fälle von Kindeswohlgefährdungen und traumatischen Erlebnissen beim Abschiebevollzug. Und Kritiker fürchten: Weil die Bundesregierung immer mehr Ausweisungen will, könnte es künftig für Ausländerbehörden und Polizei immer schwieriger werden, weiterhin hohe Menschenrechtsstandards bei Abschiebungen einzuhalten.
Immer mehr Abschiebungen: Krebskranke Frau in Tränen aufgelöst
In Nordrhein-Westfalen, wo vor allem über den Düsseldorfer Flughafen ein großer Teil der Abschiebungen aus Deutschland erfolgt, gibt es seit 2001 sogenannte unabhängige Abschiebungsobachter. Ihre Aufgabe: stichpunktartig Rückführungen von der Ankunft an den Flughäfen bis zur Flugzeugtür dokumentieren. Ihre Beobachtungen geben sie dann an das Forum Flughäfen in NRW (FFiNW) weiter, zu dem unter anderem die Diakonie, die Kirchen, aber auch das Innenministerium gehören.
Zwei dieser Beobachter sind Judith Fisch und Mert Sayim vom Diakonischen Werk Rheinland-Westfalen-Lippe. Regelmäßig kommen sie mit den Menschen in Kontakt, die Deutschland verlassen müssen. Immerhin: Fälle von Misshandlungen durch Behörden haben sie keine festgestellt, heißt es im Jahresbericht, den die Abschiebungsbeobachter am Dienstag in Düsseldorf vorstellten. Doch immer wieder komme es zu erheblichen Missständen.

Ein Beispiel: „Eine Frau war in Tränen aufgelöst. Sie hatte Krebs und war in Chemotherapie“, erzählt Sayim, der Sozialarbeiter ist. „In ihrem Zielland kann sie sich eine solche Behandlung nicht leisten. Sie sagte, dass sie sich nach der Landung das Leben nehmen werde, weil sie dort nicht auf den langsamen Tod warten wolle.“
Kind nach Herz-OP abgeschoben
Ein anderes Beispiel: die Abschiebung eines Paars und ihres kleinen Sohnes, der gerade erst eine Herz-OP hinter sich hatte. Wenige Monate vor der Nachuntersuchung wurde die Familie nach Albanien abgeschoben. „In solchen Fällen sollten die Behörden prüfen, ob die Menschen im Zielland Zugang zur akuten medizinischen Versorgung haben. Im Zweifel muss die Abschiebung ausgesetzt werden“, so Sayim.
Solche Aussetzungen dürften allerdings künftig noch seltener passieren, glaubt der evangelische Pfarrer Rafael Nikodemus, Moderator des FFiNW: „Wir hören von den Leitern der Ausländerbehörden, dass der Druck seitens des Bundes sehr hoch ist, abzuschieben. Es wird von ihnen erwartet, dass mehr und zügiger abgeschoben wird.“ Dafür dürfte es immer öfter zu Komplikationen und Eskalationen bei den Abschiebungen kommen, „davon kann man ausgehen“, so Nikodemus.
Tatsächlich gibt es bundesweit zahlreiche Berichte über unnötige Härte bei der Abholung ausreisepflichtiger Menschen durch Mitarbeiter der Ausländerbehörden. „Viele werden mit Stahlfesseln fixiert, obwohl sie gar keine Gegenwehr geleistet haben. Die Bundespolizei nimmt ihnen am Flughafen dann die Fesseln wieder ab, weil sie gar nicht nötig waren.“
Abschiebungen „so menschlich wie möglich gestalten“
„Wir bemühen uns darum, die Rückführung so menschlich wie möglich zu gestalten“, sagt Anja Kleimann von der Bundespolizei am Düsseldorfer Flughafen. Das Motto sei: „Keine Rückführung um jeden Preis.“ Zwangsmaßnahmen seien „eher selten“, und inzwischen habe man Räume mit Spielzeug für die Kinder eingerichtet, die auf ihren Abschiebeflug warten müssen.
Anders als bei der Bundespolizei, die die letzte Etappe des Abschiebevorgangs zum Flugzeug übernimmt, mangele es in den Ausländerbehörden oft an Schulungen etwa zur Deeskalation, heißt es bei der Abschiebungsbeobachtung. Denn eine gesetzliche Verpflichtung dazu gibt es nicht, lediglich Empfehlungen und kostenfreie Angebote vom Land.
Knackpunkt: Was auf dem Weg von der Abholung bis zum Flughafen passiert, davon bekommt die Öffentlichkeit in der Regel nichts mit. Die Aufgabe der Abschiebungsbeobachter ist nicht gesetzlich verankert, es gibt Übereinkommen etwa mit der Bundespolizei. „Deshalb fordern wir klar, dass ein flächendeckendes Monitoring für den gesamten Abschiebungsvollzug gesetzlich verankert wird“, sagt Judith Fisch. Tatsächlich sieht das die EU-Rückführungsrichtlinie bereits seit 2008 vor – nur hält sich Deutschland nicht daran.