Putins Antwort auf ATACMS – russische Hyperschallrakete bleibt Mangelware

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Russland hat angekündigt, mehr moderne Interkontinental-Rakete RS-28 Sarmat zu statinionieren. Damit will Wladimir Putin seine Atom-Drohung gegen den Westen untermauern. Auch von der Oreschnik-Rakete will er mehr produzieren – der Westen bezweifelt, dass er sich das leisten können wird. © IMAGO / Russisches Verteidigungsministerium

Eine neue Rüstungsspirale startet: Putins Wunderwaffe wird für eine Serienproduktion wohl zu teuer. Aber wenige davon reichen, um Angst zu schüren.

Moskau – „Russland verfügt höchstwahrscheinlich nur über eine Handvoll Oreschnik-Raketen, die noch nicht in Serienproduktion gegangen sind“, schreibt Sofia Syngaivska. Obwohl die Autorin des Magazins Defense Express klarstellt, dass Wladimir Putins neue Hyperschall-Rakete auch abseits des Ukraine-Krieges eine neue Ära der Kriegführung einläute, macht sie dennoch Mut: Laut ihrer Veröffentlichung von britischen Geheimdienstberichten soll Russland kaum über die finanziellen Mittel zur Serienproduktion dieser neuen Waffe verfügen.

„Die Rakete ist mit einem grundlegend neuen Kontroll- und Leitsystem ausgestattet, das auf einem einzigartigen Algorithmus basiert, der es ihr ermöglicht, gefährlichen Objekten (Antiraketen) auszuweichen und einen Kampfkurs mit hoher Trefferwahrscheinlichkeit einzuschlagen“, schreibt Andrei Charuk im ukrainischen Magazin Militarnyi zu Angaben Russlands über die RS-26 „Rubesch“ – eine Modifikation dieser ballistischen Rakete hatte Wladimir Putin kürzlich auf die Ukraine abgefeuert – die Welt rätselt; einerseits über die Rakete an sich, andererseits darüber, inwieweit der Diktator mit dem Abschuss einen Atomschlag vorbereitet.

Albtraum der Welt: Unrealistisch zu erwarten, dass Russland jemals die Raketen ausgehen werden

Seit Beginn des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges gegen die Ukraine zeichnet in Russland die Tactical Missiles Corporation (KTRV) verantwortlich für die Herstellung hoch entwickelter Raketensysteme; jetzt auch für die Oreschnik – allerdings sieht sich gerade dieses Unternehmen aufgrund westlicher Sanktionen vor erhebliche Herausforderungen gestellt.

„Russland würde wahrscheinlich trotzdem internationale politische Kosten für den Bruch des acht Jahrzehnte alten Tabus des Atomeinsatzes auf sich nehmen müssen, aber diese Kosten könnten von einem siegreichen Russland besser gemildert werden als von einem verlierenden Russland.“

Bereits im März des ersten Kriegsjahres, also nur wenige Tage nach Beginn der Invasion im Februar 2022, hatte beispielsweise das US-Finanzministerium erklärt, dieses Unternehmen zu sanktionieren. Das Office of Foreign Assets Control (OFAC) des US-Finanzministeriums hatte auf seiner Sanktionsliste „Dutzende russische Rüstungsunternehmen, 328 Mitglieder der russischen Staatsduma und den Chef von Russlands größtem Finanzinstitut“, wie das Ministerium mitteilte. Obwohl die Sanktionen seit dieser Zeit mehr und mehr zum Ausdünnen russischer Produktionskapazitäten geführt haben sollten, hatte Mitte vergangenen Jahres Ian Williams gemutmaßt, dass Russland weiterhin den Himmel wird beherrschen können.

Es ist unrealistisch zu erwarten, dass Russland jemals die Raketen ‚ausgehen‘ werden. Trotz Sanktionen und Exportkontrollen erscheint es wahrscheinlich, dass Russland in der Lage sein wird, die Langstreckenangriffskapazität zu produzieren oder anderweitig zu erwerben, die erforderlich ist, um der Bevölkerung, Wirtschaft und dem Militär der Ukraine erheblichen Schaden zuzufügen“, wie der Analyst des US-Thinktanks Center for International and Strategic Studies (CSIS) festgehalten hatte. Der Angriff auf die Ukraine mittels der Oreschnik kam insofern zwar wie aus heiterem Himmel, kann aber kaum überraschen.

Ukraine-Krieg: Einsatz der Rakete gilt als starkes Signal, dass Putin die Nato schwächen will

Der Einsatz der Rakete gegen die Ukraine durch den russischen Präsidenten sende ein starkes Signal aus, dass er die Nato schwächen und die europäische Sicherheitsarchitektur dem Willen Russlands unterwerfen wolle, schreibt aktuell die Washington Post. Möglicherweise ist völlig unerheblich, inwieweit sich Russland die neue Rakete wird leisten können; entscheidend scheint vielmehr, inwieweit sich Russland diese Waffe leisten will. Beziehungsweise, was sich der Westen dagegen an Rüstungsausgaben zutraut.

Wie Post-Autorin Robyn Dixon behauptet, sähen westliche Experten in der Oreschnik „den Auftakt zu einem neuen europäischen Wettrüsten, das Jahrzehnte dauern und Milliarden in den Nato-Ländern und in Russland verschlingen könnte. Moskau steckt bereits jetzt rund 40 Prozent seines Haushalts in das Militär und die Sicherheitskräfte“, wie sie schreibt. Die Oreschnik habe möglicherweise die Kapazität, sechs Atomsprengköpfe in etwa 15 bis 20 Minuten nach Europa zu tragen. Die Nachrichtenagentur Reuters zitiert einen Experten des Middlebury Institute of International Studies dahingehend, dass Raketenabfangsysteme wie die israelische Arrow 3 und die US-amerikanische SM-3 Block 2A dafür konzipiert seien, diese Raketen zu zerstören, wie deren Experte Jeffrey Lewis sagt.

Die Oreschnik soll eine Geschwindigkeit von Mach 5 erreichen, also fünffache Schallgeschwindigkeit, was mehr als 6.000 Kilometer pro Stunde entspricht. Deutschland hatte sich bereits dazu entschlossen, seine Luftabwehr-Kapazitäten um die Arrow 3 zu erweitern. Auch das ist ein weiterer Schritt zur Neuauflage der Rüstungsspirale, die Europa in den 1980er-Jahren in Angst und Schrecken versetzt hatte.

Atomkrieg wahrscheinlicher geworden: Europa an der Schwelle zu einem „neuen Raketenzeitalter“

Für Rishi Paul gilt als schärfstes Schwert in diesem Krieg die offene Frage: Was wäre wenn? Oder wie der Analyst des britischen Thinktanks European Leadership Network (ELN) sagt: „Putins bewusste Mehrdeutigkeit – mangelnde Spezifität – ist eine gezielte Taktik, die darauf abzielt, bei seinen Gegnern Zweifel zu säen.“ Zwar sei die Verwendung von Mehrdeutigkeit in der Nukleardoktrin nicht nur in Russland zu beobachten, sondern wird auch von anderen Atommächten angewandt, wie er sagt. Aber Putins Anwendung sei von ihrer eigenen Art: „Sie ist speziell auf einen laufenden Krieg zugeschnitten und daher allgemein formuliert, um eine feste Verpflichtung zum Einsatz von Atomwaffen zu vermeiden und Putin alle Optionen offenzuhalten.“

Europa stehe an der Schwelle zu einem „neuen Raketenzeitalter“, schreibt die Washington Post über die These von Alexander Gräf – der Analyst des Hamburger Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik sieht in der Oreschnik Putins Antwort auf die Pläne von USA und Bundesregierung, von 2026 an US-Mittelstrecken in Deutschland zu stationieren. Insofern besteht erneut die Frage, welche Seite agiert und welche reagiert. In Putins Rhetorik ist auch der Ukraine-Krieg eine Antwort auf die Bedrohung durch die Nato – etliche öffentliche Stimmen im Westen können dieser Behauptung etwas abgewinnen.

Putin im Fokus: Der Westen muss eine klare Abschreckungsbotschaft entwickeln

Camille Grand gehört zur opponierenden Fraktion: Vor dem Hintergrund des Rechts der Ukraine auf Verteidigung mit jedweden Mitteln „muss der Westen eine klare Abschreckungsbotschaft entwickeln, die Putin klarmacht, dass jeglicher Einsatz von Atomwaffen weiterhin inakzeptabel ist“, schreibt der Analyst des Thinktanks European Council on Foreign Relations (ECFR). Ihm zufolge „sollten die Regierungen der Nato, der USA und Europas die Eskalation sorgfältig steuern, um zu vermeiden, Putins Eskalationsrhetorik zu folgen“.

Grand sieht offenbar die westlichen Länder in der Pflicht, auf die Oreschnik eine geharnischte Antwort zu finden. Insofern ist die Frage obsolet, inwieweit Russland sich den Ausbau seines Raketenprogramms leisten könne. Selbst die angekündigte umfassendere Stationierung der Satan-2-Interkontinentalraketen fordert Ressourcen, die Russland kaum wird aufbringen können; Russland wird seiner eigenen Rhetorik aber entsprechende Taten folgen lassen müssen. Grand folgt der Politik der 1980er-Jahre, wenn er fordert, die Ukraine derart zu unterstützen, dass sie Putin aus einer Position der Stärke heraus entgegentrete, um in Verhandlungen überhaupt etwas zu gewinnen.

Nato in Gefahr? Putin könnte selbst kurz vor einem Sieg einen taktischen Atomschlag ausführen

Das wiederum hat in den 1980er-Jahren zu einem nuklearen Patt sowie der Pleite und dem Zerfall von Sowjetunion und Warschauer Pakt geführt – allerdings unter Inkaufnahme eines Ritts auf der Rasierklinge. „Doch welche nuklearen Risiken bestehen im umgekehrten Szenario, wenn sich die konventionellen Kampfhandlungen in der Ukraine entscheidend zugunsten Russlands verändern?“, fragt Mariana Budjeryn.

Die Analystin schreibt für die Vereinigung der Nuklearwissenschaftler, dass Putin selbst kurz vor einem Sieg einen taktischen Atomschlag ausführen könnte, um nicht nur die Ukraine vollends und auf Jahrzehnte hinaus in die Knie zu zwingen, sondern auch den Westen in Schockstarre zu versetzen. Budjeryn vergleicht die Situation mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Atomwaffen-Einsatz der USA gegen das bereits besiegte Japan. Damals haben zwei Atombomben gereicht – das könne sich auch Russland leisten, weil Putin damit eine umfassendere Nachkriegsordnung in Europa zu seinem Vorteil gestalten könne, wie sie behauptet..

„Russland würde wahrscheinlich trotzdem internationale politische Kosten für den Bruch des acht Jahrzehnte alten Tabus des Atomeinsatzes auf sich nehmen müssen, aber diese Kosten könnten von einem siegreichen Russland besser gemildert werden als von einem verlierenden Russland.“

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