Nicht Trump oder Harris sind wichtig – ein dritter Faktor entscheidet über die US-Wahl
Trump oder Harris – das ist die alles entscheidende Frage bei der US-Wahl. Oder? Ein dritter Faktor wird oft übersehen, könnte aber einen Unterschied machen.
Kaum jemanden kann die USA, ihre Politik und die kommende Präsidentschaftswahl besser analysieren als er: der amerikanische Politikwissenschaftler James W. Davis. Er ist ausgewiesener Experte für US-Politik und Internationale Beziehungen, lehrt seit Jahrzehnten im deutschsprachigen Raum. Für IPPEN.MEDIA schreibt er regelmäßig über die Lage in den USA und das Duell zwischen Donald Trump und Kamala Harris.
„Hör auf, auf die Umfragen zu schauen!“ Zumindest sage ich mir das immer wieder. Aber, um ehrlich zu sein, es funktioniert nicht. Wenn ich morgens aufwache, schnappe ich mir als Erstes mein iPad und schaue nach, ob es neue Zahlen aus den Swing States gibt, die über den Ausgang der Wahl am 5. November entscheiden werden. Das Gleiche mache ich, bevor ich ins Bett gehe. Ich vermute, dass mein Verhalten charakteristisch für Millionen von Politikjunkies und besorgten Bürgerinnen und Bürgern ist. Bei einem so knappen Rennen wie diesem scheint eine Veränderung um einen Punkt nach oben oder unten für einen der beiden Hauptkandidaten ein großes Ereignis zu sein. Der psychologische Effekt liegt auf der Hand, denn man fragt sich, ob dies der Beginn eines Trends sein könnte.
Aber es ist nicht meine Aufgabe, hier über die Psychologie der Wahl zu diskutieren. Die Leser und Leserinnen wollen die Fakten kennen. Und auf der Grundlage der Fakten wollen sie eine Prognose. Wer wird gewinnen? Diese Frage verfolgt mich den ganzen Tag. Sie beherrscht meine Diskussionen an der Universität und im Privaten, die E-Mails, die meinen Posteingang füllen, und die Anrufe, die ich inzwischen mehrmals am Tage von Reportern erhalte.
Einzelne Kandidaten sind für den Ausgang der US-Wahl relativ unwichtig
Die Wahrheit ist, dass niemand auf der Grundlage wochenlanger Umfragen, die ein Kopf an Kopf rennen andeuten, eine glaubwürdige Vorhersage machen kann. Also habe ich mich auf die Suche nach anderen Daten gemacht, um eine Vorhersage zu treffen. Was ich gefunden habe, ist recht interessant.
Mit nur einer Ausnahme haben die Demokraten in den letzten 30 Jahren nicht weniger als 48 Prozent der abgegebenen Wählerstimmen und die Republikaner mehr als 48 Prozent erhalten. Das einzige Mal, dass das Ergebnis anders ausfiel, war 2004. Nach den Terroranschlägen von 2001 war George W. Bush ein populärer Präsident und gewann gegen einen relativ farblosen Kandidaten der Demokraten.
► James W. Davis, US-Amerikaner, ist einer der renommiertesten Experten für US-Politik und internationale Beziehungen.
► Er studierte Internationale Beziehungen an der Michigan State University, promovierte 1995 in Politikwissenschaft an der Columbia University und habilitierte an der Ludwig-Maximilians-Universität München, wo er bis 2005 lehrte.
► Seit 2005 ist er Professor für Internationale Beziehungen und Direktor des Instituts für Politikwissenschaft an der Universität St. Gallen.
►Davis ist Autor mehrerer Bücher und hat zahlreiche wissenschaftliche Ehrungen erhalten, darunter Gastprofessuren und Fellowships an renommierten Institutionen.
Unter diesem Gesichtspunkt deuten die Daten darauf hin, dass einzelne Kandidaten oder Kandidatinnen für den Ausgang der amerikanischen Präsidentschaftswahlen relativ unwichtig sind. In einer stark polarisierten Wählerschaft schneiden die Kandidaten der Republikaner und der Demokraten in jedem Wahlzyklus in etwa gleich gut ab.
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Drittparteien machen bei US-Wahlen den Unterschied
Wo macht der Kandidat einen Unterschied? Oder anders gefragt: Wann schneiden die Demokraten besser ab als ihr Standardwert von 48 Prozent der Stimmen? Seit 2000 ist dies den Demokraten dreimal gelungen. Interessanterweise war der prozentuale Anteil der Stimmen, der an Kandidaten dritter Parteien ging, jedes Mal vernachlässigbar. Wenn Parteilosen zu den Drittparteien wechseln, werden die Demokraten in Richtung ihrer 48-Prozent-Marke gezogen.
Als sie beispielsweise 2016 gegen Donald Trump verlor, erhielt Hillary Clinton 48,1 Prozent der landesweiten Wählerstimmen. Obwohl Clinton mehr Stimmen erhielt, gewann Donald Trump in genügend Bundesstaaten, um sich eine Mehrheit im alles entscheidenden Wahlmännerkollegium zu sichern. Im Jahr 2020 hingegen besiegte Biden Trump mit 51,3 Prozent aller landesweit abgegebenen Stimmen, obwohl Trump zahlweise mehr Stimmen erhalten hat als im Jahr 2016. Der große Unterschied zwischen 2016 und 2020 war der prozentuale Anteil der Stimmen, die an Kandidaten dritter Parteien gingen. Im Jahr 2016 erhielten die Libertäre Partei und die amerikanischen Grünen zusammen 4,33 Prozent der Wählerstimmen, während 2020 der Anteil aller Drittparteikandidaten zusammen nur 1,5 Prozent betrug.
US-Wahl: „Dies sind keine normalen Zeiten“
Die wichtige Frage ist also, ob heuer die Kandidaten von Drittparteien näher an 4 Prozent herankommen oder sich irgendwo um 2 Prozent der Stimmen herumbewegen werden. Und wenn sie in die Nähe von 4 Prozent kommen, wo könnten sie dies tun? Die einzige Möglichkeit, diese Frage zu beantworten, besteht darin, auf die Umfragen zurückzugreifen, und die deuten derzeit darauf hin, dass alle Kandidaten der dritten Parteien zusammengenommen wahrscheinlich nicht mehr als 2 Prozent der Stimmen erhalten werden.
Also, ein Gewinn für Harris? Leider ist die Lage nicht so klar.
Im kritischen Swing State Michigan (15 Wahlmännerstimmen) hat eine beträchtliche arabisch-amerikanische Minderheit die Unterstützung der Regierung Biden für Israel in dessen Krieg in Gaza und Libanon lautstark kritisiert. Viele befürchten, dass diese Gruppe, die traditionell für die Demokraten stimmt, zur Kandidatin der Grünen Partei, Jill Stein, überlaufen wird. Stein, die im Wahlkampf einen palästinensischen Keffiyeh-Schal trägt, ist eine starke Kritikerin der amerikanischen Unterstützung Israels. Derzeit gehen die meisten Analysen davon aus, dass Stein in Michigan nicht mehr als 1 Prozent der Stimmen erhalten wird. Und unter normalen Umständen würde 1 Prozent der Stimmen das Ergebnis weder in die eine noch in die andere Richtung beeinflussen. Aber dies sind keine normalen Zeiten.