Kommentar - Herr Habeck, Sie loben Deutschland: Gut, aber kennen Sie diese Realitäten?

Alle wussten seit Tagen, dass er schlechte Nachrichten überbringen musste – doch dann eröffnete Robert Habeck die Pressekonferenz zu den nach unten korrigierten Konjunkturerwartungen für das laufende Jahr mit diesen Worten: „Sehr geehrte Damen und Herren, erlauben Sie mir, mit etwas zu beginnen, das für alle selbstverständlich sein sollte, was aber in diesen Tagen – vielleicht sogar in diesen Jahren – einer besonderen Betonung bedarf: Deutschland ist ein Land voller Stärken. Und voller Stärke.“

Herr Kanzlerkandidat in spe, vielen Dank – es ist der Job des Wirtschaftsministers, für gute Stimmung zu sorgen, und dass Deutschland viele Stärken hat, wer wüsste es nicht. Aber wodurch entstand der Eindruck, dass die Regierung allzu häufig die ebenso leicht erkennbaren Schwächen ignoriert oder gar verschlimmert?

Wirtschaftsminister korrigiert seine Wachstumssaussichten

Zur Erinnerung: Im Februar 2024 hatte die Bundesregierung ein Miniwachstum von 0,2 Prozent prognostiziert. Im April, da rückten die Wahlen zum Europaparlament und im Osten näher, erhöhte Habeck leicht auf 0,3 Prozent – dabei muss man kein Volkswirtschaftsexperte sein für die Einsicht, dass eine solch unbedeutende Veränderung schlicht nicht vorab messbar und die Energiekosten für das Streamen der entsprechenden Ankündigung nicht wert ist.

An diesem Mittwoch, die Wahlen sind vorüber, korrigierte der Minister für Wirtschaft und Klimaschutz die Aussicht um einen halben Punkt nach unten auf minus 0,2 Prozent. Das sagt er aber erst nach 18 Minuten und 12 Sekunden einer teilweise informativen, mitunter irritierenden Präsentation.

Zunächst gab es jedoch noch mehr Lob: Deutschland habe „einen innovativen Mittelstand, die Familienunternehmen, die das Land wirtschaftlich tragen, die in Generationen denken und nicht in der Kurzfristigkeit von Monaten oder Jahren.“

Versprochener Bürokratieabbau nicht in Sicht

Warum aber klagen trotz dieser Einsicht des Ministers gerade die Mittelständler und Familienunternehmen über die Ampel-Politik? Im Koalitionsvertrag wurde ihnen Bürokratieabbau versprochen, doch die regulatorischen Auflagen sind seitdem gewachsen – wir kommen darauf zurück. Es gibt weniger Unternehmensneugründungen, es gibt mehr Firmen, die die Segel streichen, und etliche hoffen nur noch auf Investoren, zumeist aus dem Ausland, die in Deutschland auf eine Ausverkauf-Stimmung stoßen.

„Wir haben eine lang erprobte Sozialpartnerschaft, eine Rechtsstaatlichkeit, die tief verwurzelt ist in der Republik. Wir haben eine Forschungslandschaft, die ihresgleichen sucht, wir haben exzellent ausgebildete Fachkräfte, eine vibrierende Startup-Szene und wir sind tief in den europäischen Binnenmarkt verwoben.“

Deutschland ist Wachstumsschlusslicht

Aber Deutschland ist leider auch das Wachstums-Schlusslicht in Europa und unter allen OECD-Ländern. Was die Startups angeht, hatte die Ampel in der Tat im Sommer einen Zehn-Punkte-Plan für Gründerinnen und Gründer in Deutschland vorgestellt. Dazu gehören verbesserte Rahmenbedingungen für die Finanzierung, die attraktivere Gestaltung von Mitarbeiterbeteiligungen und den erleichterten Zugang zu Daten.

Das klingt gut, die Szene wartet auf die Umsetzung. Aber auf das „Entfachen von Gründergeist“, der als einer der Punkte genannt wird, können die Unternehmerinnen und Unternehmer sicher verzichten. Macht ihnen schlicht das Gründen weniger bürokratisch!

Und wenn eine „erleichterte Gewinnung von Talenten“ versprochen wird, lässt sich das am besten durch die Senkung von Steuern und Abgaben erreichen, sodass die besagten Talente gern nach Deutschland kommen oder aber hier bleiben und ihre ökonomischen Chancen nicht im Ausland suchen.

Internationale Situation hat Auswirkungen auf Deutschland

Habeck wies in der Pressekonferenz zu Recht auf strukturelle Probleme hin wie gestiegene Energiepreise wegen des Wegfalls des russischen Erdgases, auf die konjunkturelle Schwäche Chinas mitsamt ihren Auswirkungen auf deutsche Exporte, auf protektionistische Maßnahmen in den USA.

Seine Schlussfolgerung: Deswegen „müssen wir das wirtschaftliche Wachstum von 0,3 plus auf minus 0,2 Prozent korrigieren“. Er schob die tröstliche Perspektive nach: „In 2025 erwarten wir dann ein höheres Wachstum als Anfang des Jahres prognostiziert auf 1,1 Prozent und 2026 auf 1,6 Prozent Wachstum.“

Habeck: Die Inflation ist besiegt

Denn immerhin sei die Inflation, „das Biest, das die Menschen ärmer macht“, besiegt: „Die Zinsen sinken, die Lohnabschlüsse steigen in diesem Jahr um 5 Prozent.“

Dazu bückte Habeck sich und holte, unter dem amüsierten Gekicher der Bundespressekonferenz, ein Schaubild mit einer Grafik hoch, wie er es so gern macht, und veranschaulichte, dass seit dem ersten Quartal 2023 die rote Linie für die Geldentwertung nach unten geht und die blauen Balken für die Entwicklung der Nominal- und Reallöhne nach oben wachsen: In den letzten vier Quartalen seien die Menschen „wieder wohlhabender“ geworden. Jetzt müsse nur noch das Konsumverhalten entsprechend anziehen, das tue es bislang nicht, weil die Menschen kein Vertrauen hätten. Habeck führte die geopolitische Lage, Kriege und Krisen dafür an.

Ob die Menschen nicht möglicherweise auch verunsichert sind, wegen Fehlern der Regierungspolitik? Das Heizungsgesetz ist zunächst Vergangenheit, aber die Auflagen für den Bau von Wohneigentum haben dermaßen zugenommen, dass Deutschland schlicht nicht mehr baut. Subventionen für E-Autos wurden wegen der Haushaltslage gestrichen – wäre es nicht besser gewesen, auf diese Kaufanreize von Anfang an zu verzichten und zu schauen, wie sich das Produkt am Markt durchsetzt? Selbst zur Errichtung einer einzigen Windkraftanlage, ein Herzensanliegen der Grünen, braucht es nicht eine oder zwei Genehmigungen, sondern 150.

Seit 2018 in Deutschland faktisch kein Wachstum mehr

„Wir haben seit 2000 ein durchschnittliches Wachstum von 1 Prozent“, so Habeck, und seit 2018 „faktisch kein Wachstum mehr“. Und dann sagte der Minister etwas Rätselhaftes: „Wir haben ein Potenzialwachstum, also die Möglichkeit der Volkswirtschaft zu wachsen, das in der Perspektive der nächsten Jahre bei nur 0,6 Prozent liegt. Also wenn wir alles bestens machen würden, Bürokratie geht zurück, Arbeitskräfte sind verfügbar, Kapital ist da, wir hätten nur die Chance, bis 0,6 Prozent zu wachsen.“

Einspruch! Zwar hat Habeck recht mit seinem Hinweis, dass viele strukturelle Schwächen auf „Versäumnisse nicht der letzten Monate oder Jahre, sondern der letzten Jahrzehnte“ zurückzuführen sind – zu geringe Investitionen in die Infrastruktur, in die Digitalisierung der Verwaltung oder in die Mobilisierung von Arbeits- und Fachkräften beispielsweise.

Die deutsche Wirtschaft steckt in einer Krise

Aber spätestens beim Potenzialwachstum beginnt der Minister zu tricksen. Es handelt sich um ein theoretisches Konstrukt, das sich gar nicht unmittelbar messen lässt. Um von ihm eine Vorstellung zu bekommen, berechnet man das Potenzial einer Volkswirtschaft ohne kurzfristige Konjunkturschwankungen hinsichtlich der „normalen“ Auslastung der Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit.

Doch wenn eine Volkswirtschaft so tief in einer Krise steckt wie Deutschland, muss man die Produktionsfaktoren verbessern. Bei der Arbeit geht das beispielsweise dadurch, dass man Steuern und Abgaben senkt, um den Markt attraktiver zu machen für Arbeitnehmer. Oder indem man die wuchernden Berichtspflichten und andere Auflagen deutlich reduziert.

Simples Beispiel: Wenn ein Mittelständler von 20 Angestellten zwei ständig dafür abstellen muss, Berichte für die Ämter zu erledigen oder Fortbildungskurse für Brandschutz-, Gleichstellungs- oder Leiterbeauftragte (also „befähigte Personen für die Prüfung von Leitern und Tritten“) zu besuchen, ist der Faktor der einsetzbaren Arbeit geringer und das Wachstum entsprechend bescheidener. Verzichtet man auf etliche dieser Beauftragten und einen Großteil der Berichte, hätte das Unternehmen einen höheren Produktionsfaktor an Arbeitskraft und könnte in der Produktion zulegen – und schon wäre das Potenzialwachstum größer.

Unternehmen wünschen sich mehr Eigenverantwortung

Habeck verfolgt neuerdings häufiger die richtige Strategie, etwa wenn er „Pragmatismus“ einfordert. Man müsse „schneller, einfacher und effizienter werden in der Umsetzung der verschiedenen Vorgaben und Standards“, beschreibt er die Logik der Entbürokratisierung. Er wolle nicht die Standards senken, etwa beim Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz oder bei den Entwaldungsrichtlinien, weil das eine negative Auswirkungen hätte auf Menschenrechte, Kinderarbeit, Zwangsarbeit, und das „können wir als Menschen“ nicht wollen.

Also sollen die Standards bleiben, aber künftig mit weniger Bürokratie gesichert werden: „Unternehmen müssen nur noch einmal berichten und danach holen sich die Bürokratien die Daten selbst“, sagt Habeck. Und er fügt hinzu: „Je weniger Berichtspflichten, desto mehr Eigenverantwortung der Unternehmen.

Das ist es, was sich die meisten Unternehmer wünschen – mehr Eigenverantwortung. Aber gleich im ersten vollständigen Ampel-Jahr 2022 wurden 115 neue Gesetze verabschiedet, von denen 75 aus der Bundesregierung und 39 aus dem Bundestag kamen – und von letzteren wiederum stammten 38 von der Ampel-Koalition. Entbürokratisierung ist eine prächtige Forderung, doch sie deckt sich bislang nicht mit der Realität der Regierungspolitik.

Habeck will Probleme mit aufrechter Haltung und Zuversicht lösen

Am Ende seiner Präsentation wurde der sportaffine Minister zum Trainer mit der Halbzeitansprache in der Kabine: „Wir haben ganz andere Herausforderungen, ganz andere Krisen in diesem Land gelöst, aber die Frage ist, gehen wir die Probleme mit hängenden Ohren und gesenkten Schultern an oder mit einem geraden Rücken und einer aufrechten Haltung und mit dem Willen, mit der Zuversicht, sie zu lösen“, so Habeck: „Am Ende bleibt der Appell zum Willen, hier nicht als Verlierer und noch nicht einmal als Mittelfeldplatz vom Platz zu schleichen, sondern dieses Spiel gewinnen zu wollen.“

Alles schön! Aber vielleicht sollte der Minister nicht ständig den Eindruck erwecken, dass die Politik mit auf dem Platz steht. Sie soll das Spielfeld vorbereiten, den Rasen mähen, notwendige Markierungen sichtbar machen. Aber dann sind es Unternehmer und Konsumenten, die das Spiel gestalten. Sie brauchen nicht allzu viel Zuspruch von der Seitenlinie. Lasst sie einfach machen!