Mit Kampfgeist gegen die Kinderlähmung

Weil auf seinem Zuckerwürfel kein Impfstoff war, erkrankte Toni Heilmeier an Polio. Er hat viele Herausforderungen bewältigt.
Dorfen – „Ich habe mich nie versteckt“, sagt Toni Heilmeier, der in Holz bei Dorfen lebt. „.Früher warst du als Körperbehinderter ein Mensch dritter Klasse. Freunde von mir sind gar nicht mehr vor die Haustür gegangen, ich schon“, sagt er bestimmt. Der 70-Jährige leidet seit seinem zweiten Lebensjahr an Kinderlähmung.
Zeitlebens muss er sich mit Krankenkasse und Bürokratie herumschlagen. Aber er lässt sich nicht unterkriegen. Mittlerweile kommt er mit seiner Krankheit gut zurecht. Über die Jahre hat er sich die nötigen Hilfsmittel erkämpft und seine Erfahrungen eingebracht, beispielsweise bei der Konstruktion einer individuellen Ganzbeinprothese, „die mir einen großen Mehrwehrt an Lebensqualität bringt“.
Elektrikerlehre und Pferdezucht
Doch als Kind hat es der kleine Toni schwer. Sein Vater verunglückt mit 34 Jahren, da ist Toni gerade mal zwei Jahre alt. Seine Mutter zieht mit den vier Kindern auf den Hof des Onkels. „Aber da wurden wir nur geduldet“, erinnert sich Heilmeier. „Unsere Mama war sozusagen die Magd auf dem Hof.“ Kinderlähmung ist damals ein großes Thema, alle Kinder bekommen eine Schluckimpfung. „Uns wurde sie aus einem Bus heraus verabreicht, auf meinem Zuckerwürfel fehlte leider der Tropfen mit dem Impfstoff.“
Kurz danach kommt bei Toni die Kinderlähmung mit den Anzeichen einer Grippe. „Ich hatte Gliederschmerzen und konnte meine Beine nicht mehr bewegen“, erzählt der heute 70-Jährige. Die Mutter bringt ihren damals zweijährigen Sohn in verschiedene Kliniken – nach Ohlstadt und schließlich nach Murnau. „Ich musste in einer Gipsschale schlafen, um die Wirbelsäule zu stabilisieren.“

Wieder zuhause kann er sich nur mit zwei Krücken fortbewegen. Die Atmosphäre auf dem Hof ist schlecht: „Die Oma hat mich Krüppel genannt und mich spüren lassen, dass ich nichts wert bin.“ Die Mutter sei immer auf seiner Seite gewesen, hatte aber nicht viel Mitspracherecht. Als Toni zwölf Jahre alt ist, kommt er nach München in die Landesanstalt für körperbehinderte Jugendliche. „Das war meine Rettung“, glaubt er. „Das Heim war für mich das Höchste.“ Wobei er einschränkend meint: „Am Anfang hat mir die Mama schon sehr gefehlt, da habe ich abends viel in mein Kissen geweint.“ Aber in diesem Heim habe er gelernt, mit seiner Behinderung umzugehen. „Die haben mir viel beigebracht.“
So gelingt es Heilmeier nach seinem Volksschulabschluss, am Militärflughafen in Erding eine Ausbildung zum Elektriker zu absolvieren, wo er 20 Jahre beschäftigt sein wird. Dort setzt er sich auch für die Belange anderer Mitarbeiter mit Behinderung ein. Anfangs wohnt er noch bei seiner Mutter in einer Wohnung in Erding. Doch sie erkrankt an Krebs und stirbt mit 56 Jahren.
Seine große Liebe gilt damals schon den Pferden. „Mein Opa hat Pferde gezüchtet und die haben mich fasziniert“, erzählt er. Er fängt selbst an, Pferde zu züchten und zu reiten.
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Diese Leidenschaft lenkt ihn von seiner Krankheit ab, wird ihm eines Tages allerdings zum Verhängnis. Als 25-Jähriger fällt er so unglücklich vom Pferd, dass er sich einen Oberschenkeltrümmerbruch zuzieht, der ihn ein halbes Jahr ans Krankenbett fesselt. Doch er lässt sich nicht unterkriegen und steigt bald wieder aufs Pferd. „Nur so geht es“, weiß er, „denn sonst kommt die Angst“.
Im Jahr 2004 lernt er beim Tanzen „eine super Frau“ kennen. Drei Jahre später heiraten er und Ilse. Da ist er schon längst in Frührente.

Die beiden verbindet die Leidenschaft zum Pferdesport. Mit ihren Züchtungen sind sie erfolgreich. Bis heute ist Heilmeier gerne auf der Rennbahn, „nicht zum Zocken, ich bin immer im Stall. Ich mag die Atmosphäre“. Selbst hat er längst keine Pferde mehr, „es ist gesundheitlich nicht mehr gegangen“.
2023 muss er wieder von einem geliebten Menschen Abschied nehmen. Seine Frau Ilse erkrankt schwer und stirbt nach einem halben Jahr. „Sie fehlt mir sehr“, sagt er traurig. Heute sei ihm wichtig, „dass man sich nicht unterkriegen lassen darf“. Etwas treibt ihn um: „Kaum einer spricht mehr über Kinderlähmung.“ Er warnt davor, Polio in Vergessenheit geraten zu lassen. „Auch wenn ich immer versucht habe, das Beste aus meinem Leben zu machen, so schränkt mich die Krankheit bis heute sehr ein.“
Die Krankheit Poliomyelitis
Polio ist eine Infektionskrankheit, die zu Lähmungen und zum Tod führen kann. Durch globale Impfkampagnen in den 1950er Jahren ist sie in den meisten Ländern fast vollständig ausgerottet, teilt das Paul-Ehrlich-Institut mit. In wenigen Regionen auf der Welt ist das Virus aber noch immer endemisch. Vor der Einführung der Impfung waren Polio-Wildviren weltweit verbreitet. 1988 startete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) auf Betreiben von Rotary International, deren Clubs 1979 auf den Philippinen ein Projekt zur Impfung von sechs Millionen Kindern aufgelegt hatten, eine globale Initiative zur Ausrottung der Poliomyelitis. Seitdem sind die Fälle um über 99 Prozent zurückgegangen.
Die Oma hat mich Krüppel genannt.