Weit über 100.000: Wie viele Soldaten Putin im Ukraine-Krieg wirklich verloren hat

Die tatsächliche Zahl russischer Gefallener seit Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine im Februar 2022 bleibt unklar. Offizielle Angaben dazu macht die Regierung von Wladimir Putin nicht. Die Todeszahlen der sogenannten „speziellen Militäroperation“ werden nicht genannt.

Das russische Portal "Mediazona" veröffentlicht nach Recherchen jetzt neue Zahlen, über die auch der Spiegel berichtet. Demnach kamen bis zum 10. Oktober 2025 rund 135.100 russische Soldaten ums Leben. Die Schätzung stützt sich auf eine systematische Auswertung von Todesanzeigen, Vermisstenmeldungen und Fotos neuer Soldatengräber im russischsprachigen Internet. Freiwillige Helfer durchforsten täglich soziale Netzwerke und Websites, oft erhalten die Journalisten auch Hinweise per E-Mail oder über den Messengerdienst Telegram.

Gefallene Soldaten: Russland sperrt Webseiten mit Zahlen

Das Projekt existiert seit April 2022, wenige Wochen nach Beginn der Invasion. Gemeinsam mit der BBC überprüfen die Reporter von "Mediazona" jede eingegangene Meldung, bevor sie in die Datenbank aufgenommen wird. Da die Seite in Russland gesperrt ist und als „ausländischer Agent“ gilt, arbeitet die Redaktion inzwischen von außerhalb des Landes. Die Überprüfung der Zahlen übernehmen die Journalisten manuell. „Pro Woche schaffen wir zwischen 1000 und 1500 Meldungen“, erklärt der Journalist Mika Golubovski von "Mediazona". Jede bestätigte Information wird mit einem Link belegt – etwa auf eine lokale Traueranzeige oder ein Posting von der Beisetzung.

Auch die Plattform "iStories" führt eine ähnliche Erhebung durch, setzt dabei jedoch auf Künstliche Intelligenz. Ein Algorithmus, trainiert mit Tausenden Datensätzen, bewertet, ob eine Person tatsächlich im Krieg gefallen ist oder ob der Tod andere Ursachen wie beispielsweise ein Unfall hatte. Laut iStories wurden bis Mitte Oktober 2025 rund 128.000 Tote registriert, Mediazona kommt im gleichen Zeitraum auf 135.100. „Wir sind nicht fehlerfrei, auch Dubletten sind nicht ausgeschlossen“, sagt Ekaterina Bonch-Osmolovskaya, die Leiterin des Datenteams. Dennoch ermögliche der Einsatz von KI eine effizientere Verarbeitung der enormen Datenmengen.

Uni Tübingen untersucht Übersterblichkeit in Russland

Unabhängig davon hat der Forscher Dimitry Kobak von der Uni Tübingen eine andere Berechnungsmethode angewandt. Er nutzt das Konzept der Übersterblichkeit, also den Vergleich zwischen erwarteten und tatsächlichen Todesfällen. Für den Zeitraum von Februar 2022 bis Ende 2023 ermittelte er in den militärisch relevanten Altersgruppen russischer Männer rund 59.000 zusätzliche Todesfälle. Das liegt nahe an den Zahlen von Mediazona, die im selben Zeitraum 56.000 Gefallene zählte.  

Auf ukrainischer Seite dokumentiert die Website ualosses.org die eigenen Verluste. Bis Oktober 2025 listet sie 164.911 getötete Soldaten auf – rund 30.000 mehr als Mediazona auf russischer Seite verzeichnet. 

In Russland selbst werden solche Zahlen weitgehend verschwiegen. Die Statistikbehörde Rosstat hat die Veröffentlichung detaillierter Sterbedaten eingestellt, was unabhängige Analysen erschwert.

Putins gefallene Soldaten: "Der eigene Tod wird einkalkuliert"

Eine weitere Untersuchung des Portals "Meduza" gemeinsam mit "Mediazona" deutet sogar auf noch höhere Opferzahlen hin. Durch die Auswertung des offiziellen Erbfall-Registers schätzen die Journalisten, dass bis August 2025 bereits rund 220.000 russische Soldaten ums Leben gekommen sein könnten. Mediazonas Datenbank enthielt zu diesem Zeitpunkt nur 121.000 Fälle. Anfangs deckten sich beide Datensätze weitgehend, später gingen sie jedoch um Hunderte Fälle pro Woche auseinander – offenbar, weil viele Todesfälle nie öffentlich bekannt werden.

Die gesellschaftliche Reaktion auf die Verluste bleibt in Russland verhalten. „Ein Menschenleben zählt nicht viel“, sagt Bonch-Osmolovskaya. Das gelte nicht nur für Präsident Wladimir Putin und seine Befehlshaber, sondern auch für viele Bürger. „Deshalb ziehen auch viele freiwillig in den Krieg – der eigene Tod ist einkalkuliert.“ Neben Patriotismus spielten finanzielle Anreize eine Rolle: Verwundeten und Hinterbliebenen von Gefallenen winken hohe Entschädigungen.

Die Datenbanken von Mediazona und iStories dienen inzwischen auch Angehörigen und Freunden als Suchhilfe. Von Russland aus gelingt der Zugriff auf die beiden Portale allerdings meist nur über sogenannte Mirrors (Kopien der Sites auf anderen Servern) oder einem sogenannten VPN, wie der "Spiegel" schreibt. Dabei erhält ein Nutzer in Russland eine ausländische IP-Adresse und umgeht so Sperren im russischen Internet.