Haben „andere sicherheitspolitische Mentalität“ - Wasser einfrieren und Bargeld bunkern: Wie sich Skandinavier auf Putin-Angriff vorbereiten
Dosenessen, Luftschutzbunker und etwas Bargeld in der Tasche: In Nordeuropa bereiten die Regierungen ihre Bevölkerung auf das Schlimmste vor. Mit Informationskampagnen wird in Schweden, Norwegen und Finnland vor verschiedenen Krisenszenarien gewarnt – auch vor einem Krieg mit Russland.
Die Aufklärungsoffensive ist nicht unbegründet, wie die jüngsten Entwicklungen im Ukraine-Krieg zeigen. Der Konflikt ist in eine neue Phase getreten. Die USA erlauben den ukrainischen Streitkräften, mit US-Langstreckenwaffen auch Ziele auf russischem Territorium zu beschießen. Wladimir Putin feuert neue Mittelstreckenraketen, die in der Lage wären, nukleare Sprengköpfe zu tragen, auf die Ukraine und droht dem Westen.
Die Rhetorik und auch die Kriegsführung haben sich verschärft. Vor allem die jüngsten Nato-Mitglieder Finnland und Schweden blicken der Gefahr mit düsterem Ernst ins Auge.
Nordeuropäer bereiten Bevölkerung auf russischen Angriff vor
Erst vor wenigen Tagen hat Schweden mit der Verteilung einer Broschüre begonnen, die den Bürgern praktische Tipps zur Vorbereitung auf mögliche Kriegsszenarien gibt. Ziel ist es, die Bevölkerung auf einen möglichen Angriff Russlands vorzubereiten.
Die 32-seitige Broschüre informiert über Warnsysteme, Schutzmaßnahmen bei Luftangriffen und gibt Tipps zur psychologischen und digitalen Sicherheit. Konkret heißt es darin:
„Wir leben in unsicheren Zeiten. In unserer Ecke der Welt finden derzeit bewaffnete Konflikte statt. Terrorismus, Cyberangriffe und Desinformationskampagnen werden eingesetzt, um uns zu untergraben und zu beeinflussen.“
Sollte es zu einem erhöhten Alarmzustand kommen, sind die Menschen dazu aufgerufen, wie gewohnt Ihrer Arbeit nachzugehen, „es sei denn, Sie wurden für eine spezielle Aufgabe im Kriegsfall eingeteilt“.
Außerdem wird die Bevölkerung aufgefordert, auch in den eigenen vier Wänden Vorkehrungen zu treffen und wichtige Vorräte anzulegen.
Wasser einfrieren, Dosen horten und Bargeld bereithalten
So sollen sie etwa einen Wasservorrat für mindestens eine Woche anlegen und folgende Tipps beherzigen: Nicht sicheres Wasser soll durch Abkochen trinkbar gemacht werden. Plastikflaschen mit Wasser sollen eingefroren werden, dass sie bei Stromausfall als Kühlakkus dienen und nach dem Auftauen Trinkwasser liefern.
Für den Krisenfall sollten bereits haltbare Lebensmittel wie Getreide, Nudeln und Dosennahrung im Vorratsschrank liegen. Auch Kindernahrung und Energiespender wie Schokolade oder Trockenfrüchte seien sinnvoll.
Außerdem wird dazu geraten, Bargeld in verschiedenen Stückelungen für mindestens eine Woche bereitzuhalten.
Die Broschüre erklärt unter anderem, wie sich die Bevölkerung im Falle eines Luftangriffs verhalten soll. Sollte es dazu kommen, „müssen Sie sofort Schutz in einem Bunker oder einem anderen sicheren Ort suchen“, heißt es. Bei einer möglichen militärischen Offensive könne es auch notwendig sein, ein Gebiet zu evakuieren.
„Die Strahlungswerte werden nach ein paar Tagen drastisch sinken“
In der Broschüre der schwedischen Behörde für Katastrophenschutz und zivile Notfälle (MSB) wird auch auf die erhöhte Gefahr eines Einsatzes von Massenvernichtungswaffen hingewiesen: „Bei Angriffen mit nuklearen, chemischen oder biologischen Waffen sollten Sie Schutz suchen“, heißt es da etwas lapidar. Und weiter: „Die Strahlungswerte werden nach ein paar Tagen drastisch sinken.“
Die Warnungen kommen nicht von ungefähr. Russlands Ex-Präsident Dmitri Medwedew hat das kürzlich noch einmal deutlich gemacht. Er drohte der Nato offensiv: „Russland könnte mit Massenvernichtungswaffen auf Kiew zurückschlagen - oder auch Nato-Einrichtungen angreifen, wo immer diese sich befinden.“
Finnland wurde offiziell am 4. April 2023 und Schweden am 7. März 2024 aufgenommen.
Nordeuropa-Experte: „Nordeuropäer sind lieber gut auf das Schlimmste vorbereitet“
Neben den Schweden erhielten kürzlich auch Finnen und Norweger ähnliche Broschüren. Die finnische Regierung hat eine digitale Broschüre veröffentlicht, die die Bürger auf „Zwischenfälle und Krisen“ vorbereiten soll. Darin heißt es, das Land sei „immer auf die schlimmstmögliche Bedrohung vorbereitet gewesen: den Krieg“.
In Norwegen wird die Bevölkerung in einer Broschüre aufgefordert, sich auf den Fall extremer Wetterbedingungen, Krieg und anderer Bedrohungen vorzubereiten und im Notfall eine Woche lang alleine zurechtzukommen.
Auch Tobias Etzold hatte ein solches Heft im Briefkasten. Er ist Forscher am Norwegischen Institut für Internationale Beziehungen (NIUP). Die Tipps zielten nicht nur auf Kriegsszenarien ab, sondern würden sich auch auf verschiedene Notsituationen beziehen, wie Extremwetter, Pandemien oder Sabotagen. sagt er gegenüber FOCUS online.
Sein Eindruck ist, dass die Menschen im Norden solche Hinweise eher positiv aufnehmen. Grundsätzlich herrsche bei den Nordeuropäern großes Vertrauen in den Staat, und man schätzt es, gut informiert zu sein.
Die etwas ungewöhnliche Post wird also dankend angenommen. „Hier empfinden die meisten das nicht als Panikmache. Nordeuropäer sind lieber gut auf das Schlimmste vorbereitet“, so der Experte für Nordeuropa-Politik.
Nordeuropäer haben „eine andere sicherheitspolitische Mentalität“
Die Situation sei eine etwas andere als in Deutschland, meint Etzold. „Die Menschen hier haben das Gefühl, näher am Geschehen zu sein. In Deutschland denkt man oft, dass man geografisch weit entfernt ist.“
„Hier im Norden, insbesondere in Finnland und Norwegen mit den gemeinsamen Grenzen zu Russland, fühlt sich die Bedrohung präsenter an.“ Es gebe ein stärkeres Bewusstsein für die veränderte Lage, was zu entsprechenden Vorkehrungsmaßnahmen führt. Gerade der Nato-Beitritt Finnlands sowie Schwedens zeige, dass man sich auf den Ernstfall vorbereitet.
Die nordischen Länder haben aufgrund ihrer Geschichte eine besondere sicherheitspolitische Kultur entwickelt, erklärt Etzold. Kriege zwischen Finnland und Russland sowie die prekäre Randlage während des Kalten Krieges haben diese geprägt.
Man sei sich hier seiner Verwundbarkeit bewusst und habe sich, besonders seit dem Kalten Krieg, auf Bedrohungen vorbereitet. „Die begrenzte Wehrfähigkeit der skandinavischen Länder im Vergleich zu großen Staaten betont die Notwendigkeit von Zusammenarbeit und prägte über die Zeit eine andere sicherheitspolitische Mentalität.“
In Schweden gilt die Pflicht zur Gesamtverteidigung
So gilt in Schweden etwa, dass jeder ab dem 16. Lebensjahr Teil der Gesamtverteidigung des Landes ist. Dieses Konzept g sei fest in der Gesellschaft verankert und zeige, wie ernst man mögliche Bedrohungen nehme, sagt Etzold.
In der schwedischen Broschüre heißt es dazu: „Ab dem Jahr, in dem Sie 16 Jahre alt werden, bis zum Ende des Jahres, in dem Sie 70 Jahre alt werden, sind Sie Teil der schwedischen Gesamtverteidigung und verpflichtet, im Falle eines Krieges oder einer Kriegsgefahr zu dienen.“
Die Pflicht zur Gesamtverteidigung gelte für alle schwedischen Staatsbürger, unabhängig davon, ob sie in Schweden oder im Ausland leben und für ausländische Staatsangehörige, die in Schweden wohnen.
In den nordeuropäischen Ländern gehe aber keineswegs die Kriegspanik um, erklärt Etzold. Man nehme die Gefahr zwar wahr, aber eher als abstrakt. „Es ist eine Möglichkeit, aber keine konkrete Bedrohung.“
Gratwanderung zwischen Panikmache und verantwortungsvoller Vorbereitung
Wie schwer es für Politiker und Militärs ist, diese Panik nicht zu verbreiten, aber dennoch zu warnen, zeigte sich Anfang des Jahres. Unisono warnten sie in Schweden und Norwegen vor der russischen Gefahr, berichtet Etzold.
Der schwedische Zivilschutzminister Carl Oskar Bohlin sagte: „Es kann Krieg in Schweden geben.“
„Diese und weitere Aussagen Bohlins lösten durchaus gemischte Reaktionen in Medien, Öffentlichkeit und Wissenschaft aus. Viele Schweden haben die Aussagen Bohlins als beunruhigend empfunden. Auf Nachfragen von Medien nach genaueren Angaben wich Bohlin schließlich aus“, erinnert sich Etzold.
Aus seiner Sicht spiegele das ein generelles Problem wider, das auch in Deutschland einen offensiveren Umgang mit einer potenziellen Kriegsgefahr im Wege stehe: „Eine abstrakte Gefahr ist da, kann aber, anders als Provokationen und hybride Angriffe, nicht mit konkreten Fakten, Aussagen und Handlungen von russischer Seite gegenüber Nato-Staaten ausreichend belegt werden. Es ist eine Gratwanderung zwischen Panikmache und verantwortungsvoller Vorbereitung.“
Die Broschüren seien aber ein guter Mittelweg, die Gefahr nicht zu unterschätzen, zu informieren, aufzuklären und die Bevölkerung auf Krisen vorzubereiten und auf der anderen Seite nicht in Panik zu verfallen, so der Experte.