Experte warnt vor weltweiter Bedrohung aus Syrien: „Tickende Zeitbombe“
Die Bundesregierung muss deutsche IS-Anhänger zurückholen und ihnen den Prozess machen, fordert Max Lucks. Außerdem wünscht er sich einen härteren Umgang mit der türkischen AKP-Regierung.
Berlin/Istanbul – Für einen Cappuccino und ein Croissant kann man im Café schon mal acht Euro loswerden: Istanbul ist teuer geworden, die Preise in der ganzen Türkei sind stark gestiegen. Die türkische Lira ist schwach, aktuell beträgt der Wechselkurs zum Euro eins zu 42. Energie- und Lebensmittelpreise explodieren, und das Land ächzt unter der rasant ansteigenden Inflation. „Vor ein paar Jahren lag der Wechselkurs noch bei eins zu drei“, sagt Max Lucks.
Der grüne Bundestagsabgeordnete ist Vorsitzender der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe, kennt die Türkei gut. Woher kommt sein Bezug zu dem Land? „Ich komme aus dem Ruhrgebiet. Da ist es schwer, keinen Bezug zur Türkei zu haben“, sagt Lucks. Zusammen mit Grünen-Chef Felix Banaszak war er jetzt in die Türkei gereist, um nach der umstrittenen Festnahme des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu vor Ort mit Oppositionellen und Vertretern der Regierungspartei zu sprechen. IPPEN.MEDIA hat die Delegation begleitet.
Angesichts der politischen Entwicklungen unter der Regierung von Recep Tayyip Erdogan: Reisen Sie noch gerne ins Land?
Als Politiker bin ich oft in der Türkei unterwegs. Es ist eines der Nicht-EU-Länder, mit dem wir die intensivste außenpolitische Beziehung haben. Die Türkei ist ein unfassbar spannendes, vielfältiges Land und besteht aus so viel mehr als nur Herrn Erdogan. Es ist immer wieder spannend zu erleben, mit wie viel pro-europäischem und demokratischem Ansporn gerade auch junge Leute in der Türkei auftreten.
Das sieht man jetzt in Istanbul oder Ankara, wo Hunderttausende auf die Straße gehen. Macht Ihnen das Hoffnung?
Ja, denn das zeigt die reale Möglichkeit, dass die Türkei wieder zur Demokratie zurückfinden kann. Was mich nervt, ist, dass wir in Deutschland immer nur aus einer Beobachterrolle auf das Land schauen.

Wie meinen Sie das?
Deutschland ist für die Türkei außenpolitisch betrachtet das wichtigste Land. Deutschland und Europa müssen die Chance nutzen, jetzt eine Türkei-Politik durchsetzen, die sich intensiv um die Menschen bemüht, die dort auf die Straße gehen. Wir müssen die demokratischen Kräfte unterstützen, damit sie ihr Land vor einem ausgehöhlten, autokratischen und korrupten AKP-Diktat schützen können.
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Haben Sie den Eindruck, dass Europas Politiker es sich vielleicht nicht mit Erdogan verscherzen wollen, weil sie ihn für migrationspolitische Erwägungen brauchen?
Dieses Narrativ, dass Erdogan gebraucht wird, hat die türkische Regierung sehr erfolgreich setzen können. Gerade in Deutschland hat das sehr verfangen, dass wir die Türkei wegen der NATO, der Ukraine, dem Irak und Syrien brauchen. Aber die Realität ist wesentlich komplexer. Die Abhängigkeit ist beidseitig: Auch die Türkei ist sehr stark von Deutschland abhängig.
Inwiefern?
Erdogan hat sein Land in eine völlig desolate wirtschaftliche Situation geführt. Die Türkei ist schon rein wirtschaftlich abhängig von Deutschland. Deswegen sollten wir Erdogan gegenüber sehr viel selbstbewusster auftreten und deutlicher sein. Auch aus sicherheitspolitischer und geostrategischer Erwägung wäre das geboten. Herr Erdogan wurde vom Kreml für sein Vorgehen gegen Herrn Imamoglu gelobt. Das zeigt doch, dass er wohl kaum ein verantwortungsvoller Akteur ist, dem man besonders viel Spielraum geben sollte.
Die Türkei spielt auch eine Rolle beim Gefängnis-Zeltlager Al-Hol im Nordosten Syriens, in dem Zehntausende IS-Kämpfer und deren Familien leben. Darunter sind auch deutsche IS-Anhänger. Die Bewachung dort bröckelt. Wird das zum Risiko auch für Deutschland?
Es ist bereits jetzt eine reale Gefahr für unsere innere Sicherheit. Dieses Camp ist eine tickende Zeitbombe. Die IS-Terroristen und -Terroristinnen radikalisieren sich dort immer mehr. Wenn dieses Netzwerk aus Al-Hol heraustritt, haben wir ein weltweites Sicherheitsproblem.
Wie kann man dem entgegenwirken?
Aus meiner Sicht nur durch zwei Dinge. Erstens, indem wir die Kurden, die die Bewachung übernehmen, aktiv unterstützen und für menschenrechtliche Standards in Al-Hol sorgen. Zweitens gehören die deutschen Staatsbürger, die dort noch sitzen, auch vor deutsche Gerichte. Das muss man sich mal vorstellen: Es geht um Menschen, die in Dinslaken, Oberhausen oder Gelsenkirchen aufgewachsen waren und nach Syrien gereist sind, um dort Menschen zu versklaven, zu vergewaltigen und einen Völkermord an den Jesiden zu begehen. Diese Leute sind in unserer Gesellschaft sozialisiert worden. Und unsere Politik hat bisher nicht einmal den Schneid bewiesen, ihnen konsequent den Prozess zu machen.
Warum ist das noch nicht passiert?
Diese Prozesse sind für manche Politiker schmerzhaft, weil sie offenlegen, wie sehr islamistische Radikalisierung auch schon vor 2015 in der deutschen Gesellschaft stattgefunden hat. Dubiose Organisationen konnten hier Geld für die Verbrechen des IS sammeln, ohne dass sich die Sicherheitsbehörden dafür interessiert haben. Im Kampf gegen Islamismus dürfen wir nicht immer nur über Migration reden. Wir müssen auch die Probleme mit Leuten ansprechen, die aus unserer Gesellschaft stammen.