Arzneimittelknappheit verschärft sich: Winter wird laut Apotheker eine „Herausforderung“
Pharmazeuten und Mediziner warnen, dass Arzneimittel im Winter erneut rar werden könnten. Wie steht es um die Versorgungssicherheit in Deutschland?
Kassel - Die Debatte über Medikamentenmangel und Lieferengpässe in Deutschland spitzt sich zu. Angesichts der bevorstehenden Winterzeit befürchten viele Apotheker und Hausärzte, Patienten in der Erkältungs- und Grippesaison nicht ausreichend mit Medikamenten versorgen zu können. Der AOK-Bundesverband spricht hingegen von einer „hohen Versorgungssicherheit“, die trotz Engpässen gewährleistet sei. Was stimmt nun?
Am Donnerstag (14. November) waren in der Datenbank des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) rund 460 Lieferengpässe bei Medikamenten gelistet. Laut Martin Schulze, Apotheker und Leiter der pharmazeutischen Kundenbetreuung bei der Online-Apotheke mycare.de, seien es Anfang November noch über 500 gewesen, darunter auch Antibiotika, Asthmamittel und Krebs-Medikamente.
Medikamenten-Engpässe in Deutschland: Apotheker prognostiziert „Herausforderung in diesem Winter“
„Insbesondere Arzneimittel mit Wirkstoffen wie Amoxicillin und Azithromycin könnten in den kommenden Monaten erneut knapp werden, was für Kinder und chronisch Kranke eine besondere Herausforderung darstellt“, sagte Schulze in einer Mitteilung. „Das Antiasthmatikum bzw. COPD-Mittel Salbutamol oder das Schmerz- und Fiebermittel Aspirin zur intravenösen Anwendung sind ebenfalls von der Medikamentenknappheit betroffen.“
Schulze kritisiert vor allem, dass das kürzlich in Kraft getretene Lieferengpassbekämpfungsgesetz Apotheken zwar mehr Flexibilität im Umgang mit Alternativpräparaten gebe, diese Erleichterung aber nur wirke, wenn die Alternativen verfügbar sind. Sind sie es nicht, bleibe „der Zeitaufwand in der täglichen Versorgung unverändert hoch und die Versorgungssicherheit weiterhin gefährdet“. Die Medikamentenknappheit werde laut Schulze auch in diesem Winter wieder eine „Herausforderung sein“.
Ist die Versorgungssicherheit in Deutschland tatsächlich gefährdet?
Dabei hatte das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) erst Ende Oktober berichtet, dass es derzeit keine Hinweise auf Versorgungsengpässe oder Lieferschwierigkeiten bei Arzneimitteln gebe. Dazu sagt die Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes Dr. Carola Reimann: „Zwar ist die Emotionalität bei diesem Thema teilweise verständlich, sie entspricht aber nicht der aktuellen Datenlage. Das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) hat in einer Auswertung der beim BfArM Anfang Oktober angezeigten Lieferunfähigkeiten festgestellt, dass 98,8 Prozent aller Medikamente verfügbar sind. Für die verbleibenden Arzneimittel gibt es wirkstoffgleiche Alternativen. Wir haben aktuell also eine extrem hohe Versorgungssicherheit von 99,9 Prozent.“

Lieferengpass und Versorgungslücke bei Medikamenten – Der wichtige Unterschied
Für ein Verständnis des Unterschieds zwischen Lieferengpässen und Versorgungsknappheit müssen zunächst die Begriffe eingeordnet werden. Ein Lieferengpass ist laut BfArM eine über zwei Wochen hinausgehende Unterbrechung einer üblichen Auslieferung oder eine deutlich erhöhte Nachfrage, die das Angebot übersteigt. Laut Ulrike Holzgrabe von der Julius-Maximilians-Universität Würzburg sei dabei zu beachten, dass nicht jeder Engpass gleich eine Versorgunsglücke darstelle. „Wenn bestimmte Blutdruckmittel mal schwer zu bekommen sind, ist das kein Versorgungsproblem.“ In Fällen wie diesem sei es leicht möglich, auf andere Arzneimittel auszuweichen.
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Eine Versorgungslücke gebe es erst dann, wenn diese Möglichkeit fehle. „Hochproblematisch sind zum Beispiel Engpässe bei Antibiotika“, erklärte die Seniorprofessorin für pharmazeutische und medizinische Chemie Ende Oktober gegenüber der Presseagentur dpa. Denn ein Umstieg auf ein anderes Antibiotikum sei laut Holzgrabe immer nur die zweitbeste Therapie.
Angesichts der Befürchtung von Martin Schulze, dass die Antibiotika Amoxicillin und Azithromycin in den kommenden Monaten knapp werden könnten, scheint die Sorge der Apotheker begründet. Ebenfalls nur schwer zu ersetzen seien laut Holzgrabe Salbutamol zur Behandlung von Asthma oder Atomoxetin gegen ADHS. „Beide Arzneien waren zuletzt von Engpässen betroffen“, bestätigte sie.
Debatte um Lieferengpässe: Auch Hausärzte von Engpässen betroffen
Nicht jeder Engpass muss also mit Folgen für Patienten einhergehen, es kann aber dennoch vorkommen. Apotheker Schulze kritisiert: „Die Engpässe betreffen häufig ganze Wirkstoffgruppen, sodass die Möglichkeit, auf Alternativpräparate zurückzugreifen, nur eine temporäre Linderung bringt. Besonders in der Erkältungssaison oder bei erhöhter Nachfrage wird die Fragilität der Versorgung deutlich.“

Die Knappheit belastet auch einige Arztpraxen. „Es ist nicht so extrem wie im vergangenen Jahr. Aber das ist eine Momentaufnahme“, sagt Hausärztin Sofia Hein aus dem Landkreis Harz in Sachsen-Anhalt der dpa. Ihre Praxis kämpfe dennoch damit, „ständig neue Rezepte ausstellen zu müssen, weil die Medikamente nicht da sind.“ Auch Therapien müssten umgestellt werden, wenn Medikamente nur in anderen Stärken verfügbar sind.
Es mangelt an Lösungen: Auch „Lieferengpassbekämpfungsgesetz“ von 2023 kritisiert
Für eine Verbesserung der Situation wurde in Deutschland 2023 eigentlich das „Lieferengpassbekämpfungsgesetz“ beschlossen. So wurden Preisregeln vor allem bei Kinderarzneien gelockert, Austauschmöglichkeiten für Apotheker vereinfacht. Ziel ist zudem, die Produktion in Deutschland und der EU anzukurbeln. Dass sich danach rasch etwas ändert, sei aber von vornherein nicht zu erwarten gewesen, so Professorin Holzgrabe. „Grundsätzlich sind die Probleme von Lieferengpässen bekannt und ausreichend erforscht: In Deutschland haben wir mit Rabatt- und Festbeträgen die Preise so weit gedrückt, dass für viele Hersteller der deutsche Markt schlichtweg nicht attraktiv ist.“
Auch Martin Schulze kritisiert die strukturellen Schwächen in unserer Versorgungskette. Diese komme vor allem durch die globale Abhängigkeit von Wirkstoffen aus Asien. Wenn dort ein Hersteller ausfällt, könne nicht schnell reagiert werden, die Lieferkette reiße und die Versorgung von Patienten in Deutschland sei gefährdet.
Sind die globalen Lieferketten und Abhängigkeiten das Problem?
Zumindest über die fehlende Transparenz scheinen sich Apotheker und das Wissenschaftliche Institut der AOK einig zu sein. So fehle es im Falle einer Störung in der Lieferkette meistens an Transparenz, kritisiert auch das WIdO: „Wir können heute ein Paket mit Socken oder Seifenblasen über den gesamten Versandweg tracken – haben aber keine verpflichtende Dokumentation zur Lieferfähigkeit von Herstellern und der Menge der vorgehaltenen Arzneimittel in Großhandel und Apotheken. Hier besteht dringender Regelungsbedarf, damit sich die Situation von tatsächlichen Engpässen in der Zukunft nicht wiederholt.“
Unterdessen betont das Bundesgesundheitsministerium, dass es in Deutschland keine „Versorgungsknappheit“ von Arzneimitteln gebe, sondern „punktuelle Lieferengpässe in einem sehr komplexen Markt“. Es stünden aber „fast immer wirkstoffgleiche Arzneimittel oder therapeutische Alternativen zur Verfügung“. Und dennoch könnte es in diesem Winter erneut dazu kommen, dass Eltern mit ihren Kindern auf der Suche nach dem verschriebenen Antibiotikum von Apotheke zu Apotheke wandern müssen oder mühsam versuchen, den Arzt nochmal telefonisch zu erreichen, um sich über mögliche Alternativ-Arzneimittel zu erkundigen. (nz/dpa)