An der Abbruchkante der Epoche: Beckenbauer und Schäuble – was zwei Ungleiche eint
Mit Franz Beckenbauer und Wolfgang Schäuble sind Gesichter (mindestens) einer Ära der Bundesrepublik verstorben. Es gibt Parallelen in ihrem umfangreichen Wirken.
München – Zwei Grundprinzipien bleiben im Strom der Nachrichten fast immer abstrakt: der Tod – und die Zeit und ihr Vergehen. Der eine bleibt zynisch hinter „Verlust“-Zahlen verborgen (in Kriegen, bei Mord und Totschlag) oder scheint mit dem letzten Nachruf abgeschlossen. Die andere existiert schlicht nur als fortwährendes „Jetzt“. Die nächste Neuigkeit ist schon auf dem Weg.
Bei den beiden prominentesten Todesfällen der vergangenen Tage könnte sich das anders anfühlen: Dass Wolfgang Schäuble und Franz Beckenbauer binnen kurzer Zeit verstorben sind, ist reiner Zufall – genauso wie der erstaunliche Umstand, dass beide als Lebende Gegenstand und Stichwortgeber einer am Montag (8. Januar) ausgestrahlten TV-Doku werden sollten. Aber es wirft ein Schlaglicht auf das Leben in Zeiten des Bewegtbildes. Auf eine Epoche und einen Zeitenwandel (nicht nur) deutscher Geschichte. Und auf Politik. Auch im Falle Beckenbauers.
Beckenbauer und Schäuble gestorben: Zwei Ungleiche – und Figuren ihrer Zeit
Beckenbauer und Schäuble – deren Wege sich natürlich mehrfach kreuzten – eint dabei auf den ersten Blick nicht viel. Der eine: „Lichtgestalt“ und „Kaiser“, zuständig für Erfolge und Unterhaltung. Der andere: Ein schwäbischer Arbeiter im Maschinenraum der Macht, ein „tragischer Held“ der letztlich nie nach ganz nach oben gelangte, sich auch mit Folgen von Gewalt und politischen Ränken plagte. Beide aber waren – fast gleich alt zudem – Konstanten und Kinder ihrer Zeit: Wer in gewissen Phasen der 80er, 90er, 00er-Jahre die „Tagesschau“ sah, hatte stets gute Chancen, Beckenbauer und Schäuble zu begegnen.
Nicht zuletzt in den 90ern und den 00ern prägten beide das Land nachhaltig – jedenfalls über Umwege. Und ihr Handeln war in gewisser Weise exemplarisch. Gerade in ihren schwächeren Momenten. Dass es die gab, darüber machte sich jedenfalls Schäuble keine Illusionen: „Jeder Mensch macht ja nicht alles richtig“, sagt er in schlüssiger Verschwurbelung in der ARD-Doku „Beckenbauer“.
Von den 90ern bis in die 10er: Schäuble und Beckenbauer teils im Gleichschritt
Bei allen Ungleichheiten gibt es (späte) biografische Parallelen: Als Europa das letzte Mal im Umbruch war, waren beide auf einem Zenit: 1990 gewann Franz Beckenbauer – als Trainer – die Fußballweltmeisterschaft und prophezeite, das Team des wiedervereinigten Deutschland werde „auf Jahre hinaus unschlagbar“ sein. Schäuble verhandelte in etwa um diese Zeit federführend die Einigungsverträge. In den 00er-Jahren kehrten die beiden fast schon aus dem Fokus Geratenen zurück in die erste Reihe: Beckenbauer beschaffte gefühlt im Alleingang das „Sommermärchen“, Schäuble wurde Innen- und später Finanzminister.

Mitte der 10er-Jahre ließ sich Beckenbauer als Werbefigur für den russischen Gazprom-Konzern einspannen – und lieferte mit dem späteren Satz, er habe „noch keinen einzigen Sklaven in Katar gesehen“, einen verbalen Fehltritt, der auf skurrile Weise wie ein Echo Gerhard Schröders Diktum des „lupenreinen Demokraten“ Wladimir Putin klang. Nach den Enthüllungen über die WM 2006 (bis dahin eigentlich seine dritte „gewonnene“ Weltmeisterschaft) verlor er öffentlichen Kredit. Schäuble verhandelte mit eiserner Hand (wenn auch später von Angela Merkel eingebremst) die Euroschuldenkrise.
Im Nachhinein – und mitten im Lauf der Geschichte – final zu urteilen ist einerseits wohlfeil, andererseits leichtfertig. Aber Parallelen lassen sich ausmachen: Im Moment des Erfolgs, 1990, waren Beckenbauer wie Schäuble womöglich zu überzeugt vom eigenen Erbe. Wobei der Fußball-Kaiser nur falsche sportliche Erwartungen schürte, zumal mit scherzendem Unterton, Schäubles strikte Linie aber bis heute Schmerzen. Die DDR hatte fraglos abgewirtschaftet; aber die Form der Abwicklung der Ostwirtschaft und die Regel „Rückgabe vor Entschädigung“ könnten – man weiß es nicht – bis heute in AfD-Umfragewerten nachschwingen.
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Beckenbauer und Schäuble feierten zwiespältige Erfolge – an der Abbruchkante der Epoche
Franz Beckenbauer war nie in einem Sinne (partei-)politisch wie sein Bayern-Präsidenten-Nachfolger Uli Hoeneß, der an CSU-Wahlkampfständen grillt und in TV-Talks schon mal Fake-News über Grünen-Minister verbreitet. Aber weit über das Jahr 2014 hinaus für Gazprom zu werben, wirkt schmerzlich symptomatisch: Der Gas-Deal mit Russland war für Deutschland ökonomisch süß, Krim-Besetzung und Donbass-Krieg hin oder her – und man darf davon ausgehen, dass es auch der Werbedeal für Beckenbauer war. Insofern war der „Kaiser“ immerhin in bester, umfassender Gesellschaft: Das ganze Land hielt es ja genauso. Man kann das kritisieren, es aber nur schwer komplett unnachvollziehbar finden.
Schäuble wiederum prägte in den zähen Verhandlungen für und gegen den „Grexit“ ein neues Bild einer eiskalten Wirtschaftsmacht Deutschland – und, fast vergessen, ließ als Innenminister Sorgen vor einer „Stasi 2.0“ aufkommen. Beides waren Griffe nach „Sicherheit“. Ob der Griechenland-Kurs ökonomisch notwendig war, dürfte kommenden Generationen von Ökonomen zu bewerten obliegen.

In jedem Fall handelten die beiden Kempen früherer Jahrzehnte an der Abbruchkante einer Epoche: Der DFB bei der WM-Vergabe und die Bundesregierung setzten ihre Erfolge als ökonomische Großmächte durch.
Beckenbauers Erfolge: Die Welt war komplizierter geworden – Schatten und offene Fragen
Zumindest bei der WM 2006 schien vielen für einen Moment die Welt in Ordnung. „So hat der liebe Gott sich die Welt vorgestellt“, habe Beckenbauer beim Anblick der Abschlussparty am Brandenburger Tor gesagt, erinnert sich sein Vertrauter Marcus Höfl in der ARD-Dokumentation.
Das mit dem ewigen Frieden in Europa und dem sorglosen Handel mit Russland war aber spätestens während Beckenbauer Gazprom-Engagement schon passé. Nationalflaggen sind nicht mehr nur Staffage für Fußballfeste. Und das ewige Wachstum könnte auch Vergangenheit sein. Anders als der Bedarf nach einem einigen Europa – das manche durch Schäuble gefährdet sahen – und Kooperationen in aller Welt. Greifbar wurde all das lediglich ein wenig später. Mission erfüllt. Aber zu einem Preis.
Im Rückblick auf die beiden zweifelsohne arbeitsamen Leben Beckenbauers und Schäuble schwingt Bitteres mit. Auch das Wort „Korruption“ tauchte im Dunstkreis der beiden auf: Bei Schäuble im Zuge der CDU-Parteispendenaffäre. Bei Beckenbauer in Zusammenhang mit der WM 2006. In beiden Fällen blieben Fragen ungeklärt. Beide sahen sich als Opfer von Kampagnen. Möglich, dass andere Schuld abwälzten, aber mittlerweile ein allzu bekanntes rhetorisches Muster. Denkbar auch, dass Handlungen, die in früheren Zeiten „normal“ oder zumindest opportun schienen, später zum Bumerang wurden. Fortbestand hat aber wohl der Fakt, dass Geld die Welt im Kern zusammenhält. Das wusste die Werbe-Ikone Beckenbauer schon in den 60ern. Die Welt allerdings war komplizierter geworden.
Beckenbauer und Schäuble: Inventar der Lebenswelt
Wie man auf Schäuble und Beckenbauer – beide zuerst Vertreter der alten West-, dann der neuen gesamtdeutschen Bundesrepublik – blickt, hat jedenfalls so einiges mit Geburtsjahren zu tun. Früh geborene mögen sich mit wohligem Schauder an den Ballzauberer Beckenbauer erinnern oder an Helmut Kohls jungen Kronprinzen Schäuble. Der Autor dieses Textes hat in den frühen 90ern angefangen, die Welt bewusst wahrzunehmen. Es heißt, was man zu dieser Lebenszeit erlebt, gelte unbewusst als naturgegeben.
In diesem Sinne waren die Funktionärs-Lichtgestalt und der ewige Minister Inventar der Welt. Wolfgang Schäuble sprach als mahnende Stimme der „Sicherheit“ aus dem TV-Gerät, Franz Beckenbauer eilte begleitet von TV-Kameras von Erfolg zu Erfolg. Schlimmstenfalls mal mit einem blauen Auge, wie 1996 als reaktivierter Bayern-Coach. So war es über Jahrzehnte. Bei Wolfgang Schäuble bis vor wenigen Monaten – Franz Beckenbauers TV-Präsenz und seine Erfolgssträhne waren etwas früher geschwunden. Das ist nun Geschichte. Geschichte wie die anderen Gewissheiten der gefühlt sorgloseren Jahre der 90er und 00er. Und Politik und Fußball in Deutschland brauchen neue Rettungsanker.
„Isch over“ und „spielt‘s Fußball“: Beckenbauer und Schäuble bleiben in Erinnerung
Das vielleicht bekannteste der vielen Bonmots Beckenbauers wird in dieser Lage der Welt und des Fußballs vermutlich zumindest nicht aktiv weiterhelfen: „Schaumer mal, dann sehmer‘s schon“ dürfte weder der freien Welt, noch der notorisch strauchelnden Fußballnationalmannschaft zu neuen Erfolgen verhelfen. Aber es bleiben zwei Weisheiten, die in ihrer trockenen Prägnanz Fingerzeige geben könnten. „Isch over“, sagte Schäuble 2015. „Geht‘s raus und spielt‘s Fußball“, soll Beckenbauer 1990 seinem Team mit auf den Weg gegeben haben.
Ersteres ist mit Blick auf eine neue Zeit in Europas Geschichte zu akzeptieren. Zweiteres als Aufforderung zu verstehen: Die nächste Epoche kommt nicht nur, sie hat sogar schon begonnen. Und sie will positiv gestaltet werden. (fn)
Die BR-Dokumentation „Beckenbauer – Legende des deutschen Fußballs“ ist in der ARD-Mediathek abrufbar.