Viel deutet daraufhin, dass der Ukraine-Krieg 2024 ins dritte Jahr geht. Experten ordnen ein, was die Truppen Kiews gegen Wladimir Putins Armee dann benötigen.
Kiew - Die Fronten sind wahrlich verhärtet im Ukraine-Krieg. Im Kampf gegen den Überfall Russlands gestand das zuletzt der ukrainische Oberbefehlshaber ein, General Walerij Saluschnyj.
Ukraine-Krieg: Front ist im Süden am Dnipro und im Osten bei Bachmut festgefahren
„Die Ukraine hat nicht nur die Invasion eines viel stärkeren Feindes aufgehalten, sondern auch einen großen Teil ihres Territoriums befreit. Doch nun tritt der Krieg in eine neue Phase ein: In das, was wir Militärs den ‚Stellungskrieg‘ nennen, also stagnierende und zermürbende Kämpfe wie im Ersten Weltkrieg“, schrieb Saluschnyj jüngst in einem Gastbeitrag für The Economist. Im Süden und im Osten - überall sind die Frontverläufe festgefahren, während sich die ukrainischen Streitkräfte bei Awdijiwka heftigen russischen Angriffen erwehren.
Ukraine-Offensive in 2024? Militär-Analyst glaubt an neuen Anlauf gegen Russlands Armee
Dennoch sagt der Politikberater Stefan Gady der Süddeutschen Zeitung (SZ) mit Blick auf 2024: „Wenn die Ukraine bei Munition und elektronischer Kriegsführung ihre Defizite ausgleichen oder sogar eine Überlegenheit herstellen kann, können Durchbrüche mit größeren Verbänden möglich werden.“ IPPEN.MEDIA analysiert, was die ukrainischen Truppen dann für eine neuerliche Offensive bräuchten.
Ukraine braucht viel mehr Munition zur Verteidigung gegen die russische Armee
Viel mehr Munition: Bis Ende des Jahres wollten westliche Verbündete Kiew eine Million 155-mm-Artillerie-Granaten bereitstellen. Bis Mitte November wurden davon aber „nur“ 300.000 Stück geliefert. Mehr noch: Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) gestand ein, dass die Zielgröße von einer Million deutlich verfehlt wird. Aus Osteuropa kommen Forderungen nach entschlossenen Rettungsversuchen für den Munitionsplan der Europäischen Union. Wenn aus eigenen Lagern und über eigene Bestellungen bei der Industrie nicht ausreichend Munition organisiert werden könne, sollte man in Drittstaaten kaufen, sagte Estlands Verteidigungsminister Hanno Pevkur der Deutschen Presse-Agentur (dpa).
Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba kritisierte im Gespräch mit der Ukrainska Pravda einen „bedauernswerten Zustand der (europäischen, d. Red.) Rüstungsindustrie“. Anfang Oktober hatte das Bundesverteidigungsministerium mehrere zehntausend Geschosse des Typs L15 beim Rüstungskonzern Rheinmetall bestellt. Das Düsseldorfer Unternehmen bekräftigte auf seiner Website ferner, dass das erste Los an 35-mm-Munition für den Flugabwehrkanonenpanzer Gepard ausgeliefert wurde. „Mehrere zehntausend Schuss der insgesamt 300.000 Schuss für die Ukraine werden bis Jahresende gefertigt und bereitgestellt“, hieß es weiter.
Ukraine braucht gepanzerte Fahrzeuge für Verwundete und mehr Kampfpanzer
Viel mehr gepanzerte Fahrzeuge und Panzer: Während das Regime von Moskau-Autokrat Wladimir Putin russische Soldaten oft mit Uralt-Panzern an die Front schickt, warten die Ukrainer sehnsüchtig auf Dutzende Leopard-1A5-Kampfpanzer aus Deutschland, Dänemark und den Niederlanden. Berlin hatte Kiew bis Sommer „mehr als 100 dieser Kampfpanzer“ versprochen. Angekommen sind aber erst 30 Exemplare.
Rheinmetall erklärte kürzlich, 2024 im Verlauf des Jahres 25 aufbereitete „Leos“ 1 zu liefern. Wären insgesamt 55. Im Auftrag der niederländischen und dänischen Regierung will Rheinmetall den ukrainischen Streitkräften im kommenden Jahr zudem 14 Leopard 2A4 liefern. Experten bemängeln, dass die Ukrainer vor allem auch gepanzerte Rettungsfahrzeuge für Verwundete benötigen. Passend dazu verbreiten russische Blogger Drohnen-Aufnahmen, wie ukrainische Soldaten auf einem Pickup einen Verletzten retten wollen - ehe die Drohne sie trifft.
Wenn die Ukraine bei Munition und elektronischer Kriegsführung ihre Defizite ausgleichen oder sogar eine Überlegenheit herstellen kann, können Durchbrüche mit größeren Verbänden möglich werden.
Oberster General der Ukraine fordert mehr und modernere elektronische Kampfmittel
Wirkungsvolle elektronische Kampfmittel forderte Saluschnyj mit Nachdruck. „Wir müssen die Wärmebildkameras der russischen Drohnen nachts mit Stroboskopen blenden. (...) Elektronische Kriegsführung ist der Schlüssel zum Sieg im Drohnenkrieg“, erklärte der 50-Jährige. Es gehe um „das Stören von Kommunikations- und Navigationssignalen“.
„Wir brauchen (...) erweiterte Produktionslinien für unsere elektronischen Antidrohnensysteme in der Ukraine und im Ausland. Wir müssen die elektronische Kriegsführung unserer Drohnen in einem größeren Bereich des Funkspektrums verbessern und gleichzeitig verhindern, dass unsere eigenen Drohnen versehentlich blockiert werden“, meinte er. Gady erklärte dazu: „Die russische elektronische Kriegsführung ist der ukrainischen an großen Teilen der Front überlegen.“ Es brauche „die Massenproduktion von elektronischen Kampfmitteln, vor allem von Störsendern und Angriffsdrohnen“.
Wegen russischer Angriffe: Ukrainische Truppen sind laut Militär-Experte erschöpft
Eine Verschnaufpause bis Frühjahr 2024: Große Offensivoperationen sind im Winter allein wegen der schwierigen Witterungsverhältnisse nicht zu erwarten. Die Verteidigung der kritischen Infrastruktur wird laut Präsident Selenskyj hart genug. „Die Kampfmoral ist immer noch hoch, aber die Soldaten sind erschöpft. Es gibt beachtliche Verluste“, erklärte Analyst Gady der SZ: „In den Infanterieverbänden, also bei den Verbänden, die vor allem die Angriffsoperationen ausführen, gibt es kaum mehr Einheiten, die wirklich angriffsfähig sind.“ Das ist insofern bemerkbar, da es Einheiten wie die in der Ukraine berüchtigte 3. Angriffsbrigade waren, die im Sommer Schützengraben um Schützengraben einnahmen. Im Winter brauchen auch sie wohl eine Pause. (pm)