Software- und Sicherheitsspezialist - Warum die digitale Revolution in der Medizin noch ein weiter Weg ist
Der Einsatz von KI im Gesundheitswesen hat großes Potenzial. Bei aller Euphorie gibt es aber noch einige Hürden, die überwunden werden wollen. Dazu zählen auch technische Fragestellungen. Bis wir darauf Antworten haben, bleibt KI ein unterstützendes Element, sagt Software-Spezialist Peter Liggesmeyer.
Geht es nach dem Wunsch vieler Menschen, müsste die Digitalisierung des Gesundheitswesens in Deutschland deutlich an Tempo aufnehmen. Laut einer kürzlich erschienenen repräsentativen Umfrage des Digitalverbands Bitkom sind 71 Prozent der Menschen für eine beschleunigte Digitalisierung in diesem Bereich. Gleichzeitig fühlt sich aber auch rund die Hälfte der Befragten angesichts der fortlaufenden Veränderungen überfordert. Um dem entgegenzuwirken, fordert Bitkom-Vizepräsidentin Christina Raab: „Wir müssen die Kompetenzen zum Umgang mit digitalen Gesundheitstechnologien und -anwendungen stärken.“
Das ist absolut richtig und zwar in zweierlei Hinsicht: Sowohl die Menschen selbst müssen als Patienten neue Kompetenzen für die Nutzung digitaler Technologien erwerben als auch die Personen, die im Gesundheitswesen arbeiten. Dieser Aspekt wird immer wichtiger, je weiter die digitale Transformation voranschreitet. Und nicht nur das: Insbesondere die Entwicklungen im Bereich Künstlicher Intelligenz haben das Potenzial, im Gesundheitswesen so einiges auf den Kopf zu stellen.
Peter Liggesmeyer ist Leiter des Fraunhofer-Instituts für Experimentelles Software Engineering IESE in Kaiserslautern und Inhaber des Lehrstuhls für Software Engineering am Fachbereich Informatik an der RPTU Kaiserslautern-Landau. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen neben den Fokusthemen Künstliche Intelligenz, autonome Systeme und Industrie 4.0 vor allem Konzepte im Bereich Safety und Security.
Viele Anwendungsmöglichkeiten von KI
Dabei muss es noch gar nicht darum gehen, wie KI-gestützte Roboter in Zukunft bei Operationen zum Einsatz kommen. Die Einsatzmöglichkeiten von KI fangen schon deutlich niedrigschwelliger an. Nehmen wir zum Beispiel das Thema Bürokratie. Im Gesundheitsbereich gibt es heute noch sehr viele manuelle Dokumentationsprozesse. Ärzte müssen entsprechend viel Zeit dafür aufwenden, ihre Arbeit zu dokumentieren und schriftlich festzuhalten. Diese Zeit fehlt für andere Tätigkeiten, wie etwa für ein ausführliches Gespräch mit den Patienten.
Das könnte sich aber schon bald ändern. Denn mit Hilfe einer KI ließen sich diese Dokumentationsprozesse quasi automatisch durchführen. Das wiederum käme allen Beteiligten zugute: den Patienten, den Pflegern und den Ärzten.
Ähnlich sieht es aus mit Blick auf die Fragebögen, die Patienten im Wartezimmer ausfüllen müssen. Erstens sind das oft seitenlange Texte, die nicht wirklich benutzerfreundlich aufbereitet sind. Zweitens haben Patienten in der Regel keine Möglichkeit, in Ruhe Rückfragen dazu zu stellen. Und drittens landen die Fragebögen im schlechtesten Fall dann doch in irgendeiner Schublade, ohne dass sie weiter beachtet werden.
Auch das muss in Zukunft nicht so bleiben. Mit KI könnte dieser Prozess entscheidend optimiert werden, etwa indem die Fragebögen digital vorliegen und integrierte Chatbots direkte Rückfragen standardisiert beantworten. Im Anschluss würden die Fragebögen digital abgespeichert, sodass Ärzte zu jeder Zeit auch nachträglich darauf Zugriff haben. Oder was wäre, wenn eine KI die neuesten medizinischen Forschungsberichte auf die wesentlichen Kernaspekte komprimiert, sodass sich Ärzte einfach und unkompliziert auf dem Laufenden halten können?
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Keine ausreichende Datenlage vorhanden
Ich könnte jetzt noch viele weitere Beispiele aufführen und zum Teil finden KI-basierte Systeme auch schon im Gesundheitswesen Anwendung. Obwohl das Potenzial also wirklich groß ist, gibt es durchaus aber auch eine ganze Reihe an Herausforderungen, die den Einsatz von KI eben nicht ganz so trivial machen, wie es auf den ersten Blick scheint. Dazu gehört beispielsweise die sehr dünne Datenlage, die aktuell noch im Gesundheitswesen vorherrscht.
KI-Systeme sind auf umfangreiche Datenquellen mit qualitativ hochwertigen Daten angewiesen; zumindest, wenn sie auch wirklich gut und verlässlich funktionieren sollen. Diese Daten liegen insbesondere in der Medizin oft nicht in ausreichender Menge und Qualität vor oder dürfen nicht ohne Weiteres genutzt werden. Das macht es ungemein schwierig, neue KI-basierte Lösungen für diese Branche zu entwickeln.
Besonders herausfordernd ist es, eine geeignete Balance zwischen Datenschutz und gezielter Datennutzung zu finden. Im Gesundheitsbereich wird schließlich mit sehr vielen oft sehr sensiblen Daten gearbeitet. Einerseits ist es natürlich wichtig, in diesem Bereich hohe Ansprüche an den Datenschutz zu stellen. Andererseits darf das aber nicht dazu führen, dass Daten überhaupt nicht mehr genutzt werden dürfen. Gerade im Rahmen der medizinischen Forschung ist die verantwortungsbewusste Nutzung von Daten elementar, um neue Erkenntnisse und Lösungen zum Wohle der Patienten zu generieren.
Dependable AI als großes Forschungsfeld
Zu den wohl größten Herausforderungen gehören außerdem die noch existierenden technischen Hürden. Hier geht es vor allem um das große Forschungsfeld rund um Dependable AI – sprich um KI-Systeme, die im Sinne von Safety und Security verlässlich sind. Auch wenn das Gebiet der KI viel breiter ist, so dreht sich die aktuelle Diskussion in diesem Bereich im Wesentlichen um Machine Learning und neuronale Netze. Diese werden deutlich anders entwickelt als klassische Software, was Vor- aber auch Nachteile verursacht.
Während bei einer „normalen“ Software das Verhalten in einer Programmiersprache vorgegeben wird, werden neuronale Netze mit großen Mengen an Daten trainiert. Damit „lernen“ sie quasi ihre Funktionalität aus den in den Trainingsdaten enthaltenen Beispielen. Das kann in Abhängigkeit der Qualität und Menge der Trainingsdaten gut funktionieren. Eine Garantie, dass das so trainierte neuronale Netz stets so reagiert, wie gewünscht, kann aber nicht gegeben werden. Es lässt sich also noch nicht nachweisen, dass eine solche Software stets das macht, was sie soll, was diese Lösungen für bestimmte kritische Anwendungsbereiche ausschließt.
Ich sage hier bewusst „noch“, denn genau daran wird aktuell auf Hochtouren geforscht – auch bei uns am Fraunhofer IESE. Wird es uns gelingen, diese Verlässlichkeit bei derartigen KI-Systemen zu garantieren, so scheint das Anwendungspotenzial für das Gesundheitswesen – aber natürlich auch für viele weitere Bereiche – schier unbegrenzt. Bis es aber so weit ist, ist es noch ein weiter Weg. Bis dahin werden solche Systeme im Gesundheitswesen unterstützen – nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Dieser Text stammt von einem Experten aus dem FOCUS online EXPERTS Circle. Unsere Experts verfügen über hohes Fachwissen in ihrem Themenbereich und sind nicht Teil der Redaktion. Mehr erfahren.