Ich wurde in Shanghai fast überfahren – und verstand erst dann, wie schnell China wirklich ist

Es passierte mitten im Französischen Viertel, zwischen alten Platanen, hupenden Rollern und lautlosen E-Autos. Ein Kleintransporter schiebt sich durch die Kreuzung, direkt auf mich zu. Für die Fahrer hier Alltag – für mich fast das Ende. Im letzten Moment reiße ich den Lenker herum. Puh. Geschafft.

Ohne Smartphone bist du verloren in China

Mein Smartphone springt im Korb meines Leihrads auf und ab, als wollte es fliehen. Ohne die Karte darauf wäre ich verloren in diesem Gewirr aus Straßen und Sprachen. Zwischen Hochhäusern, Parks und Schnellstraßen herrschen eigene Gesetze – und keines davon steht in der Straßenverkehrsordnung. Ich trete in die Pedale, weiche einem Roller aus, der aus der Gegenrichtung kommt, und denke: Ein Helm wäre keine schlechte Idee gewesen.

Auf Shanghais Straßen gilt: Lautlos ist das neue Schnell. FOCUS online/ Sebastian Astner

E-Autos, wohin man schaut...

Der Verkehr in Shanghai ist ein Schauspiel. Und ich mittendrin, Statist auf zwei Rädern. Es gibt viele Dinge, die es hier auf mich abgesehen haben – sie wissen es nur noch nicht.

Ganz oben in der Hierarchie: die Busse und Lkw. Ihre Fahrer, meist ältere Männer mit Zigarette im Mundwinkel, lenken ihre tonnenschweren Kolosse mit stoischer Ruhe durch enge Straßen. Keine Miene, kein Zögern. Meistens harmlos – bis zur nächsten Kreuzung. Der tote Winkel heißt hier so, weil er es manchmal ist.

Den Asphalt beherrschen die Elektroautos. Glänzend, leise, neu. BYD, Great Wall Motors, BAIC – manchmal auch ein Tesla. Verbrenner erkennt man an blauen Kennzeichen, Elektroautos an grünen.

Rad durch Shanghai
Mit dem Rad durch Shanghai? Ganz einfach, an jeder Ecke stehen Mieträder. FOCUS online/Sebastian Astner

...und kaum deutsche Marken

An jeder Ampel surren neue Modelle vorbei, viele von Marken, die ich noch nie gesehen habe. Es scheint, als würde hier jeden Monat ein neues Auto auf den Markt kommen – und die Zahlen geben dem Gefühl recht.

In China verzeichnen Elektrofahrzeuge einen rasanten Aufschwung: Im Mai 2025 wurden rund 1,3 Millionen „New Energy Vehicles“ (NEV) verkauft – Elektroautos und Plug-in-Hybride. Ein Plus von 37 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Damit erreichten sie fast die Hälfte aller Neuzulassungen. Für das Gesamtjahr erwarten Experten, dass der Anteil auf rund 60 Prozent steigt.

Und dann sind da noch die Roller – die eigentlichen Herrscher der Straße. Sie fahren bei Rot, gegen die Fahrtrichtung, über Gehwege. Einer wendet mitten auf der Kreuzung, und niemanden stört’s. Das Chaos funktioniert. Irgendwie.

Ich passe mich an, manövriere zwischen Autos hindurch, rase mit den Rollern über den Seitenstreifen. Es ist gefährlich, ja – aber auch befreiend. Ordnung ist woanders.

Straße in Shanghai
In Shanghai sieht man mehr deutsche Autos als in kleineren Städten. FOCUS online/Sebastian Astner

Big Brother Staat fährt immer mit

So wild es auf den Straßen zugeht, so streng ist die Ordnung darüber. Über jeder Kreuzung hängen Kameras, über jeder Spur Sensoren.

Ein gelber Lieferroller streift mich, als ich durchs Französische Viertel fahre. Ich bremse, fange das Rad gerade noch ab. Glück gehabt. Wäre etwas passiert – ich hätte den Fahrer nie gefunden. Dachte ich zumindest.

Hundert Meter weiter blitzt es. Auf einem Stahlbalken über der Fahrbahn sitzen kleine schwarze Augen: Kameras, Blitzer, Sensoren. Sie blitzen wieder. Und wieder. Sie messen nicht die Geschwindigkeit. Sie messen die Menschen. Kennzeichen, Gesichter, Bewegungen. Alles wird gespeichert.

Kameras registrieren jeden Unfall

Eine Chinesin erzählt mir später von einem Unfall. Ein Lkw hatte ihr den Spiegel abgefahren und war weitergefahren. Das Kennzeichen? Nicht gemerkt. In Deutschland wäre man verloren. In Shanghai ruft man die Polizei. Fünfzehn Minuten später hatte sie das Geld für den neuen Spiegel auf dem Konto. Die Kameras wussten, wer der Fahrer war. Die Versicherung zahlte – automatisch.

Für diese Sicherheit opfern die Chinesen ihre Privatsphäre. In China läuft alles über das Smartphone. Ohne WeChat oder Alipay geht nichts – keine U-Bahn, kein Taxi, kein Mittagessen. Selbst das Leihrad schaltet sich nur frei, wenn ich meinen Pass mit dem Konto verknüpfe.

Freiheit auf zwei Rädern, aber Kontrolle in der Cloud.

Roller in Shanghai
Fortbewegungsmittel Nummer 1? Der Roller. FOCUS online/Sebastian Astner

Abschied mit der U-Bahn

Am Abend lasse ich mein blaues Rad zwischen grauen Plattenbauten stehen. Mein Handy vibriert: „Hab einen schönen Tag“, meldet Alipay. Ich nehme die Treppen zur U-Bahn, die mich zum Flughafen bringt. Shanghai rauscht an mir vorbei – Lichter, Menschen, Motoren, all das verschwimmt im Hochhausschungel.

Der Verkehr in dieser Stadt ist wie China selbst: rasant, widersprüchlich, präzise organisiert im Chaos. Zwischen alten Frauen auf Bambusrädern und glänzenden E-Autos liegt der ganze Sprung in die Moderne.

U-Bahn Shanghai
In der Rushhour sind die Züge in Shanghai voll und das obwohl Shanghai das größte und eins der besten U-Bahn Netzte der Welt besitzt FOCUS online