Proteste in Russland eskalieren: Beobachter ziehen Sowjet-Vergleich – Folgt nun der Aufstand gegen Putin?
Ein Urteil sorgt in Russland für heftige Proteste. Die Behörden konnten den Aufruhr beenden. Doch Experten sprechen schon vom Beginn weiterer Tumulte.
Baimak – Nach einem Urteil gegen den Ökoaktivisten Fail Alsynow brodelt es in Russlands Gesellschaft: Wie mehrere Nachrichtenagenturen berichten, haben Tausende Menschen in der russischen Teilrepublik Baschkortostan an der Wolga gegen die Verurteilung demonstriert. Der Protest fällt in die Zeit vor den Präsidentschaftswahlen in Russland, bei denen Wladimir Putin sich sein Amt bestätigen lassen will.
Protest in Russland wegen Urteil gegen Aktivisten: Größte Demonstration seit Beginn des Ukraine-Kriegs
Es geht um angeblich rassistische Äußerungen, weswegen der russische Aktivist Alsynow nun zu vier Jahren Haft verurteilt wurde. Nach Einschätzung des unabhängigen Internetportals Wjorstka versammelten sich in der Kleinstadt Baimak vor dem Gerichtsgebäude mehr als 3000 Menschen, um Alsynow zu unterstützen. Beobachter sprachen von einer der größten Protestaktionen in Russland seit Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine. Die Demonstranten riefen „Freiheit für Alsynow“ und forderten den Rücktritt des Gebietschefs Radij Chabirow, auf dessen Forderung der Prozess gegen den Ökoaktivisten eingeleitet worden war.
Wie die Deutsche Presse-Agentur schreibt, sollen Sicherheitskräfte versucht haben, die Menge mit Gewalt abzudrängen. Unter anderem sollen Schlagstöcke, Blendgranaten und Tränengas eingesetzt worden sein. Die Demonstranten bewarfen die Polizisten laut dem Medium Ostoroschno Nowosti mit Schneebällen und Eisstücken. 15 Menschen wurden Medienberichten zufolge verletzt. Mehrere Personen wurden demnach festgenommen. Gegen sie werde wegen der Organisation von Massenunruhen und wegen der Teilnahme daran ermittelt, teilte die regionale Justiz der Agentur Tass zufolge mit.
Aufruhr vor Präsidentschaftswahl in Russland: Aktivist sprach wegen Ukraine-Krieg von Genozid
Die genaue Zahl der Teilnehmer des Protests ist unklar. Unterschiedliche Quellen berichten von bis zu 10.000 Sympathisanten. Dem Prozess von Alsynow war eine Rede bei einer Versammlung im April 2023 im Dorf Ischmursino vorausgegangen, bei der der Aktivist den Begriff „kara chalyik“ benutzt haben soll. Wörtlich übersetzt heißt das „schwarze Leute“, umgangssprachlich für „einfaches Volk“. Regionalchef Chabirow erstattete daraufhin Anzeige und Staatsanwaltschaft sowie Richterin übernahmen die Lesart, dass der Aktivist „ethnischen Hass“ schüren würde.
Während der Fall für die Staatsanwaltschaft damit klar war und Alsynow demnach ein russisches Schimpfwort benutzt hat, mit dem Menschen aus dem Kaukasus und aus Mittelasien verunglimpft werden, sieht der Verurteilte eine Intrige gegen seine Person. Alsynow war einer der Anführer der Proteste gegen den Abbau des Kalksteinbergs Kuschtau in Baschkortostan. Im Zuge der Demonstrationen wurde Kuschtau 2020 zu einem unter Schutz stehenden Naturdenkmal erklärt. Zugleich setzte sich der 37-Jährige für eine stärkere Autonomie der Teilrepublik und den Schutz der baschkirischen Sprache ein. Die von ihm mitgeführte Organisation Baschkort wurde 2020 als extremistisch eingestuft und verboten. Zudem hat er den Ukraine-Krieg als „Genozid am baschkirischen Volk“ bezeichnet. „Das ist nicht unser Krieg“, kritisierte er die Invasion. Die Region Baschkortostan gehört nach Medienangaben zu einem der russischen Gebiete mit überdurchschnittlich hohen Verlusten im Ukraine-Krieg.
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„Lage spitzt sich zu“: Behörde geht mit Gewalt gegen Protest in Russland vor – Vergleich zum Ende der Sowjetunion
Die Ausschreitungen im Ural fallen für Russlands Präsidenten, Wladimir Putin, in eine ungünstige Zeit. Der Kreml-Chef betont immer wieder die Geschlossenheit der russischen Gesellschaft und ist bemüht, vor der Präsidentschaftswahl diesen Schein aufrechtzuerhalten. Wie unter anderem der Bayerische Rundfunk berichtet, sollen Behörden bereits während den Ausschreitungen begonnen haben, Telegram-Kanäle zu sperren und die örtliche Online-Kommunikation einzuschränken. Auf Telegram sagte der Politologe Abbas Galljamow: „Die Lage in Baschkortostan spitzt sich zu.“ Gleichzeitig warnte er von den möglichen Folgen der Proteste.
Die Behörden müssten „bei der Unterdrückung der Unzufriedenheit sehr hart vorgehen“, so Galljamow. Dies hätte dann zur Folge, dass schmerzhafte Erinnerungen wachgerüttelt werden. Auf diese Weise sei einst die Sowjetunion zusammengebrochen, schrieb der Experte. „Die Behörden selbst legen nun eine Bombe unter der Führung Russlands.“
Aktuelle Entwicklung in Russland: Protest könnte Putin in ernsthafte Krise stürzen
Auch andere Experten sehen in der aktuellen Entwicklung in Russland das Potenzial, das Land in eine ernsthafte Krise zu stürzen. Sie verweisen in aktuellen Analysen zur Lage, die unter anderem in Telegram-Kanälen geteilt werden, darauf, dass der Protest in Russland im Kleinen beginnen und sich anschließend wie ein Flächenbrand ausbreiten könnte. Der Unmut gegen Wladimir Putin und seinen Ukraine-Krieg habe sich inzwischen aus den Städten aufs Land verlagert und sei dort für Behörden nur schwer kontrollierbar.
Wie sich die Unruhen in Russland weiter entwickeln werden, ist gegenwärtig noch schwer abzuschätzen. Gegen zahlreiche Demonstranten wurde offiziellen Angaben zufolge eine Untersuchung wegen der Organisation von „Massenaufruhr“ und Gewalt gegen die Polizei eingeleitet. Der Vorwurf der „Aufruhr“ kann bis zu 15 Jahre Haft nach sich ziehen, Gewalt gegen die Polizei bis zu fünf Jahre. Protest auf der Straße ist in Russland, wo jede Kritik an der Führung mit Gefängnis bestraft werden kann, äußerst selten. Größere Protestbewegungen gab es im Herbst 2022, als Hunderttausende Reservisten zur Verstärkung der Truppen in der Ukraine mobilisiert wurden. Möglich ist, dass nun aber weitere Unruhen folgen könnten. (fbu/afp/dpa)