Kommentar vom Klimabüro-Chef - Das Ahrtal offenbart das Märchen von der „unbürokratischen Hilfe“
Viele Menschen an der Ahr weigern sich, dieselben Fehler der Vergangenheit noch einmal zu machen – und ihre Hartnäckigkeit zahlt sich aus. Auch große Verwaltungstanker bewegen sich, wenn nur viele Menschen kräftig genug schieben. Gleichzeitig belegt der Vorgang, dass an der Ahr immer noch unendlich viel Zeit verdaddelt wird.
Lachen über die „Modellregion“
Mittlerweile wird immer deutlicher, dass es nicht nur an einem professionellen Krisenmanagement bei der Flut fehlte, sondern auch an einem Katastrophenmanagement danach. Eine „Sonderwirtschaftszone“, vereinfachte Genehmigungsverfahren und Verwaltungsfachleute aus der ganzen Republik forderten die Bürgermeister an der Ahr nach dem Desaster, damit sich die Akten nicht bei einer naturgemäß überforderten Kreisverwaltung bis unter die Decke stapeln. Bei sieben Prozent Mehrwertsteuer anstatt 19 hätten sich die Handwerkerinnen und Handwerker in Deutschland möglicherweise darum gerissen, das Ahrtal wieder aufzubauen. Die Forderungen verhallten ungehört.
Kein Wunder, dass das Begriffspaar „unbürokratische Hilfe“ heute immer wieder für Lacher und Spott an der Ahr sorgt, ebenso wie das Label „Modellregion“, das der Region und den Menschen übergestülpt wurde, auch von uns Medien. Doch bisweilen tut sich Bemerkenswertes: Es verdichten sich Signale, wie man es besser machen und aus den Fehlern der Vergangenheit lernen kann. „Die Flutkatastrophe zeigt den Menschen in Deutschland und anderswo, dass es besser ist, nicht im Überschwemmungsgebiet zu bauen“, sagt die Winzerin Meike Näkel aus Dernau zu FOCUS online Earth. Nach dem letzten großen Ahrtal-Hochwasser im Juni 1910 wurde aber genau das getan.
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„Eine andere Stadt, ein anderer Fluss“
Tödliche Fehler. Jetzt endlich scheinen die Menschen an der Ahr ihren Fluss verstanden zu haben und ihn zu respektieren: Die Renaturierung der Ahr ist das größte Gewässerwiederherstellungsprojekt in Deutschland. Bad Neuenahr-Ahrweiler wird „eine andere Stadt und die Ahr ein anderer Fluss“ sein, sagt Bürgermeister Guido Orthen. Auch andere Projekte, die einzigartig sind und möglicherweise Modellcharakter haben, laufen an: In Dernau geht wahrscheinlich in den nächsten Wochen eins der deutschlandweit größten zusammenhängenden Wärmenetze in einer vorhandenen Alt-Bebauung an den Start.
Entlang der Ahr bauen einige Winzer ihre Weingüter nicht wieder im alten Stil auf, vielmehr entstehen in Zusammenarbeit mit internationalen Architekten, Hochwasser- und Energieexperten und Weinbaufachleuten verschiedene Projekte, die Hochwasserschutz, modernste Bauweise, Geo- und Topografie, Naturschutz und Klimaresilienz, Erneuerbare Energien sowie Nachhaltigkeit unter einen Hut bringen. Das „Nachhaltige Tourismuskonzept Ahrtal 2025“ des Ahrtal-Tourismus Bad Neuenahr-Ahrweiler zeigt mit Hängebrücke, Skywalk, Flutmuseum, Gebiets-Vinothek oder Internationalem Wissenschafts- und Begegnungszentrum die Vision einer Gegend auf, die zur nachhaltigsten und innovativsten Natur- und Weinregion in Deutschland werden will.
Das Ahrtal als Lehrmeister
Dennoch: Bei Visionen sind die Menschen vorsichtig geworden. Nicht wenige Menschen an der Ahr fragen sich, warum hier noch jemand Urlaub machen sollte. Sie sind verunsichert und zweifeln an der Zukunft. Kein Wunder, wenn es in diesem Tempo weitergeht.
Wünschenswert wäre, dass die Fehler an der Ahr endlich abgestellt und die Verwaltungen unterstützt werden, dass endlich die Geschwindigkeit erhöht wird bei den vielen tausend Herkulesaufgaben, die diese Region vor der Brust hat. So wie es im Moment an vielen Orten zwischen Blankenheim und Sinzig aussieht, ist das ein Armutszeugnis für ein Land wie Deutschland.
Darauf werden wir immer wieder hinweisen, konstruktiv und kritisch. Aus dem Klimabüro im Ahrtal, das für unsere Klimaberichterstattung auch symbolische Bedeutung hat. Hochwasser hat es an der Ahr immer gegeben. Doch Starkregenereignisse, die sich tagelang über eine Region ergießen, werden mit dem Klimawandel weiter zunehmen. Der Starkregen könnte schon morgen jede andere Region in Deutschland treffen. Dann wäre es gut, vorbereitet zu sein. Es wäre gut, einen Plan für den Katastrophenschutz in der Schublade zu haben. Und es wäre gut, eine Ahnung davon zu haben, wie die vielzitierte „unbürokratische Hilfe“ tatsächlich gelingen kann. Das Ahrtal könnte da ein guter Lehrmeister sein.