Lehrerin zog Reißleine - “Manche Erstklässler konnten nicht einmal allein zur Toilette gehen”
Die erfahrene Sonderpädagogin Susanne Baratti entschloss sich im Spätsommer 2024 zu einem drastischen Schritt: Sie kündigte ihre Beamtenstelle als Schulleiterin einer Förderschule in Solingen. Die Entscheidung sei ihr schwergefallen, aber die Umstände hätten sie dazu gezwungen. "Ich bin angetreten, um Kindern einen sicheren Ort zu geben, an dem sie sich entfalten können", sagt Baratti im Interview mit der ZEIT. Doch die Mittel, die ihren Schulen zur Verfügung standen, reichten nicht aus, um die immer gefährlicher werdenden Bedingungen zu verbessern. In dem Interview spricht sie über die verheerenden Auswirkungen der Inklusionspolitik und warum sie sich für einen Neuanfang in der Schweiz entschieden hat.
Barattis Leidenschaft für die Sonderpädagogik begann schon früh. Als Jugendliche las sie ein Buch über einen autistischen Jungen, der dank engagierter Pädagogen aus seiner Isolation befreit wurde. "Ich selbst war damals schlecht in der Schule", erinnert sie sich. Doch ein Lehrer, der auf ihre individuellen Bedürfnisse einging, änderte alles. Inspiriert von dieser Erfahrung beschloss sie, Sonderpädagogik zu studieren, um verhaltensauffällige und geistig behinderte Kinder zu fördern. "Es hat mich gereizt, sie nach ihren Stärken zu fördern", sagt Baratti. Als Schulleiterin konnte sie ihre organisatorischen Fähigkeiten und kreativen Ideen voll ausleben.
Inklusion als Sparmaßnahme umgesetzt
Doch die Realität sieht anders aus. Die UN-Konvention zur Inklusion, die 2013 in Kraft trat, sollte die Situation der Förderschüler verbessern. Stattdessen verschlechterte sich ihre Situation dramatisch, vor allem in Nordrhein-Westfalen, wo die Inklusion als Sparmaßnahme umgesetzt wurde. Förderschulen wurden zusammengelegt, den Regelschulen fehlten Sonderpädagogen. Baratti stand plötzlich vor der Herausforderung, drei Standorte mit immer größeren Klassen zu leiten - und das bei schrumpfendem Budget. "Ich war nur noch unterwegs und konnte die Lehrer nicht mehr im Unterricht unterstützen, geschweige denn die Schüler individuell fördern", beschreibt sie ihren Alltag.
“Manche Erstklässler konnten nicht einmal allein zur Toilette gehen.” - Sonderpädagogin Susanne Baratti
Konflikte und Eskalationen waren an der Tagesordnung. Kinder mit unterschiedlichen Förderschwerpunkten wurden durcheinander gewürfelt, und es fehlte an Fachpersonal, das gezielt auf ihre Bedürfnisse eingehen konnte. Baratti erzählt von dramatischen Situationen: "Ich musste mich entscheiden, ob ich in die Schule mit dem suizidalen Kind oder in die Schule mit der Schlägerei gehe". Die zunehmenden Entwicklungsdefizite der Kinder, die oft auf traumatische Erlebnisse während der Pandemie zurückzuführen waren, verschärften die Situation zusätzlich. "Wir hatten Fälle von Kindeswohlgefährdung, und manchmal war es unmöglich, die Eltern zu erreichen", erzählt Baratti.
Entscheidung, den Schuldienst zu verlassen
Der Mangel an Unterstützung und die unerträglichen Bedingungen führten schließlich zu Barattis Entscheidung, den Schuldienst zu verlassen. Ihr Abschiedsbrief verdeutlicht, wie dringlich die Probleme sind. Sie beschreibt einen Schulalltag, der von Konflikten geprägt ist, mit wenigen Möglichkeiten zur Deeskalation. "Opfer werden zu Tätern", fasst sie gegenüber der ZEIT die Dynamik zusammen. Auch an Regelschulen gibt es ähnliche Probleme. Baratti sieht dringenden Handlungsbedarf: "Qualitative Förderung ist unter diesen Umständen nicht möglich."
In ihrem neuen Leben in der Schweiz arbeitet Baratti an einem freien Lernort, wo sie das Bildungssystem mitgestalten kann. "Wir unterrichten in kleinen Gruppen und betreuen diese zu zweit", erklärt sie. Der Unterricht wird lebensnah gestaltet, indem beispielsweise Apfelsaft hergestellt wird, um verschiedene Aufgabenstellungen zu integrieren. "Praktischer Unterricht wird in Zukunft wichtiger sein", ist Baratti überzeugt. In der Schweiz bekommen Kinder, was sie brauchen, um sich zu entwickeln, auch wenn das bedeutet, dass sie zu Hause lernen.
Müssen uns fragen, welche Werte wichtig sind
Deutschland hingegen müsse visionärer werden, meint Baratti. "Lehrer, Eltern, Schüler und Politiker sollten gemeinsam die aktuellen Unterrichtsinhalte überdenken", fordert sie. Die Schule der Zukunft sieht sie projekt- und handlungsorientiert, mit ausreichend pädagogischen Lernbegleitern. "Wir müssen uns fragen: Welche Werte sind uns wichtig und wie unterstützen wir Kinder dabei, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden?" Diese Fragen bleiben in Deutschland oft unbeantwortet.
Barattis Geschichte ist ein Appell an die Politik, das Bildungssystem grundlegend zu überdenken. Die Förderung von Kindern sollte nicht nur in Zahlen und Budgets gemessen werden, sondern in der Fähigkeit, ihnen einen sicheren und förderlichen Raum zu bieten. In einem Bildungssystem, das von finanziellen Zwängen und bürokratischen Hürden geprägt ist, haben individuelle Bedürfnisse oft keinen Platz. "Es lohnt sich, in die Kinder zu investieren", betont Baratti. Schließlich sind sie die Zukunft unserer Gesellschaft.
Und wie können Eltern Ihre Kinder unterstützen? Beispielsweise brauchen Kinder neun Dinge zum Schulstart von ihren Eltern.