Die europäische Infrastruktur ist auf einen möglichen Krieg mit Putins Russland kaum vorbereitet. Ein neues EU-Gesetz soll das nun verbessern.
Brüssel – Angesichts der Bedrohungen durch Russland will die EU-Kommission ein neues Notfallsystem für schnelle grenzübergreifende Truppenverlegungen vorschlagen. Militärische Transportoperationen könnten so in einer Krise EU-weit vorrangig Zugang zu Verkehrsnetzen, Infrastruktur und damit verbundenen Dienstleistungen erhalten. Im Interview mit dem Münchner Merkur von Ippen.Media kritisiert der EU-Abgeordnete Niclas Herbst (CDU) das zögerliche Handeln der Kommission und vieler EU-Mitgliedsstaaten. Ihm zufolge unterschätzen viele politische Entscheidungsträger die Bedeutung der militärischen Mobilität.
Seit mehr als drei Jahren wehrt sich die Ukraine gegen Russland. Warum braucht die EU so viel Zeit, um nun ein neues Notfallsystem zur grenzüberschreitenden Truppenverlegung auf den Weg zu bringen?
Das ist wirklich eine gute Frage. Ich glaube, einer der wesentlichen Gründe ist der siebenjährige Finanzrahmen, der 2019 beschlossen wurde und sich stark an den damaligen Problemen orientiert. Wir haben bereits mehrfach erlebt, wie unflexibel wir in der EU in unserer Haushaltsplanung sind. Zu oft schaffen wir es nicht, unsere Pläne in einer ausreichenden Zeit umsetzen – obwohl der politische Wille vorhanden ist.
Möglicher Krieg mit Russland? EU-Abgeordneter sorgt sich über geringes Budget
Also redet die EU zu viel und handelt zu wenig?
Ja, ich erkenne häufig einen großen Unterschied zwischen Sonntagsreden und der realen Umsetzung am Montag. Da gibt es enorme Lücken.
Enorme Lücken gibt es auch zwischen dem theoretischen Konzept der sogenannten militärischen Mobilität und der konkreten Umsetzung.
Das stimmt. Mich stimmt nachdenklich, dass wir als Parlament in den letzten Haushaltsverhandlungen für eine Anhebung des Budgets für Military Mobility in Höhe eines niedrigen einstelligen Millionenbetrags kämpfen mussten. Angesichts der akuten Herausforderungen ist diese geringe Summe wirklich ein Witz – und zwar ein sehr schlechter.
Politiker und Experten sind sich einig, dass die NATO und die EU den russischen Präsidenten Wladimir Putin nur von einem Angriff abhalten können, indem sie ihn glaubhaft abschrecken. Ist ernsthafte Abschreckung so möglich?
Wir als Demokraten haben gegenüber Diktatoren einen enormen Nachteil: Wir sind vergleichsweise langsam bezüglich der Handlungsfähigkeit. Ich glaube schon, dass wir einige sinnvolle Gesetze auf den Weg gebracht haben, aber die Umsetzung nimmt Zeit in Anspruch. In zwei bis drei Jahren werden wir Früchte der sogenannten Zeitenwende sehen.
Deutschland würde im Krieg mit Russland besondere NATO-Rolle einnehmen
Welche Früchte?
Wir werden größere industrielle Kapazitäten zur Fertigung von Rüstungsgütern besitzen. Dieser Aufbau von industriellen Kapazitäten, großen Lieferketten und komplexen Waffensystemen braucht einfach eine gewisse Zeit. Gleiches gilt für den Aufbau neuer Militäreinheiten, wofür es Personal und Wissen benötigt. Putin macht das anders: Er wirft nach extrem kurzer Ausbildungszeit Soldaten als Kanonenfutter in die Schlacht.
Im Kriegsfall würde Deutschland als Drehkreuz der NATO-Streitkräfte eine besondere Rolle in der Logistik einnehmen. Aber: Würde die deutsche Infrastruktur den Belastungen standhalten? Etwa, wenn schwere Transporter und Panzer über marode Brücken fahren müssten?
Nein, wir sind nicht ausreichend vorbereitet. Wir sind heute nicht ausreichend in der Lage, große Truppenverbände beispielsweise von Frankreich an die Ostflanke zu verlegen. Selbst wenn einzelne wichtige Versorgungswege gut ausgebaut wären, bestünde weiterhin ein Problem der Redundanzen. Damit meine ich, dass wir kaum Ausweichmöglichkeiten haben, falls Straßen und Brücken durch Russland zerstört wurden.
Es könnte nicht nur um Truppenverlegungen gehen, sondern auch darum, Geflüchtete und Verwundete von der Front abzutransportieren.
Ich denke, dass die militärischen Planer hier bereits weit sind, die Politik aber hinterherhinkt. Auch die Versorgung der europäischen Bevölkerung würde vor neuen Herausforderungen stehen, wenn Russland beispielsweise Lager angreift, die zur Daseinsversorgung dienen. Also Frischwasser, Nahrungsmittel und Medikamente. Bei der militärischen Mobilität geht es nicht nur um Brücken, wir müssen viel größer denken.
EU-Abgeordneter fordert Umbau von Flug- und Seehäfen
Neben Brücken und Straßen müssten im EU-Raum auch Häfen und Flughäfen für schwere Transporte umgebaut werden. Glauben Sie, dass dafür genügend Zeit vor einem möglichen russischen Angriff bleibt?
Es stimmt, dass wir auch in diesen Bereich begrenzte Fähigkeiten und möglicherweise nicht mehr genügend Zeit für einen ausreichenden Aufbau haben. Wir müssen bereits jetzt an vielen Stellen improvisieren und dafür sollten wir zunehmend zivile Kapazitäten nutzen. Das war eine unserer Kernfähigkeiten im Kalten Krieg, aber sie wurde in den vergangenen Jahrzehnten zu selten geübt. Das müssen wir ändern und gleichzeitig unsere Flug- und Seehäfen ertüchtigen.
Anfang des Jahres hat der Europäische Rechnungshof moniert, dass die Milliardeninvestitionen für eine schnellere Verlegung von Streitkräften nicht die gewünschte Wirkung erzielen. Stimmen Sie zu?
Als Vorsitzender des EU-Haushaltskontrollausschusses habe ich dieses Verfahren eng begleitet. Wir müssen die vorhandenen Gelder deutlich effizienter einsetzen. Viele EU-Mitgliedsstaaten müssen endlich erkennen, dass wir die Beträge für die vorgesehenen Zwecke nutzen – und nicht für ohnehin aus zivilen Gründe geplante Infrastruktur. Letztlich gehört auch zur Wahrheit, dass uns für die militärische Mobilität im EU-Haushalt nur knapp 1,7 Milliarden Euro zur Verfügung stehen – von einem Gesamthaushalt in Höhe von 200 Milliarden Euro. Das zeigt, dass die militärische Mobilität bei vielen Mitgliedern eine extrem untergeordnete Rolle spielt, was ihrer Bedeutung absolut nicht gerecht wird. Erst im kommenden EU-Finanzrahmen ab 2028 sollen die Mittel auf rund 17 Milliarden Euro verzehnfacht werden.
EU-Staaten arbeiten nicht ausreichend zusammen
Warum verkennen EU-Länder die Bedeutung?
Die Mitgliedstaaten wollen vor allem neue Gefechtsfahrzeuge oder Kampfschiffe beschaffen und haben weniger das Gesamtbild im Kopf. Der beste und neuste Kampfpanzer nutzt niemanden etwas, wenn er nicht verlegt werden kann.
Arbeiten die EU-Staaten ausreichend zusammen?
Nein, weil die Zusammenarbeit zu oft durch nationale Egoismen erschwert wird. Denn die Beschaffung neuer Verteidigungsgüter ist nur ein Faktor. Auch die Interoperabilität von Einheiten und Verbänden sowie die Standardisierung von Waffensystemen zwischen den nationalen Streitkräften der EU-Staaten spielen eine bedeutende Rolle, aber dort werden vorhandene Potenziale viel zu wenig genutzt.
Welche Potenziale meinen Sie konkret?
Wir könnten viel mehr Waffensysteme, Munition und Ersatzteile gemeinsam beschaffen. Dadurch würden wir die Gelder effektiver investieren und die Industrie könnte schneller liefern. Das funktioniert aber nicht, wenn jedes EU-Land ein für ihre Armee extra modifiziertes Waffensystem bestellt und Beschaffungspolitik am liebsten mit nationaler Industriepolitik betreibt. So verlieren wir viel Zeit, die wir möglicherweise nicht haben. (Interview: Jan-Frederik Wendt)