„War nicht mehr unsere Welt“: 5-Sterne-Hotel-Chef schmeißt hin und macht alles anders

An einem wolkenverhangenen Morgen gleißt das Metall der Kücheneinrichtung unter Neonlicht. Im fensterlosen Raum trudeln Order im Sekundentakt ein. „26 wollen Frühstück“, ruft eine Stimme von weit hinten, „zweimal Spiegelei jetzt“, und Benjamin Mannsbart schiebt die schwarze Kochhaube nach hinten. Es ist 7:10 Uhr. Mit der rechten Hand röstet er Tomatenmark für die Pastasauce zum Lunch an, mit der linken schlägt er Eier in eine Pfanne. Sein Blick wandert zu einem jungen Mann, der eineinhalb Meter entfernt steif vor einer blauen Schiebetür steht. „Nun mal los jetzt“, muntert Mannsbart ihn auf.

Er hat gut reden. Im fünften Jahr ist die Küche hier sein Arbeitsplatz, er kennt jeden Topf. Doch für Timo Schäfer an der Tür ist es der erste Tag, noch dazu zur Probe. Er soll jetzt raus zu den Gästen, nur scheut er sich. „Ich tu mich doch schwer, das Leben einzuordnen“, sagt er noch, aber da macht Mannsbart einen Seitschritt nach links und hebt den Arm, löst den Bewegungsmelder aus: Die Tür rauscht auf. „Nun mal los jetzt!“

Inklusion im Hotel: Arbeiten auf Augenhöhe

Draußen im Frühstücksraum des Hotels beugen sich zwei Dutzend Gäste über ihre Teller. „Wann holt uns der Van ab?“, fragt einer. „Was sagen wir nun beim Meeting?“, murmelt eine andere. Schäfer, 25, strafft mit beiden Händen kurz seine dunkle Schürze. Dann stakt er aus der Küche zu den Tischen hin. Er räumt Tassen ab, lächelt, verabschiedet einen Gast, der aufsteht. Vom Empfang kommend grüßt auch eine andere Angestellte den Mann. „Sie sehen sehr gut aus“, sagt Annaluisa Azewedo, 24, im Vorbeigehen. „Es ist ja wichtig, dass Sie sich wohlfühlen.“

Dieses Hotel ist anders als andere. Das liegt nicht daran, dass Schäfer mit einer Autismus-Spektrum-Störung lebt, Azewedo mit einem Williams-Beuren-Syndrom und Mannsbart mit Lernschwierigkeiten. Die Herberge „EinsMehr“ am Rande Augsburgs ist anders, weil ihr gelingt, was fast überall in Deutschland als unmöglich gilt: ein gemeinsames Arbeiten von Menschen mit und ohne Behinderung – gleichberechtigt und auf Augenhöhe.

Faire Bezahlung statt Werkstattlohn

Die Beschäftigung in Werkstätten für Menschen mit Behinderung haben die drei hinter sich gelassen. Ein Durchschnittsentgelt von 240 Euro im Monat bezogen sie dort. Hier werden alle nach Tarif bezahlt. Zurück in der Küche simmert das tomatisierte Mark nun gemeinsam mit Tomaten und Hack zu einer Bolognese-Soße. „Noch mehr reduzieren?“, fragt Mannsbart seinen Chefkoch Norman Ostheeren.

Der 43-Jährige schnuppert kurz, nickt und eilt weiter zum Ofen. Keksduft entweicht aus dem „Rational i Combi Pro“. Die Cookies werden zur Begrüßung in den Zimmern ausgelegt; Mannsbart hatte den Teig heute früh als Erstes ausgerollt. Vier Jahre trennen die beiden voneinander, ansonsten eint sie ein stets leicht schalkhaftes Lächeln.

Vom Sternerestaurant zum Inklusionsprojekt

Ihre Wege kreuzten sich aus verschiedenen Richtungen: Mannsbart wollte raus aus der Werkstatt. „Da habe ich jahrelang nur Salat geschrubbt und Kartoffeln geschält“, sagt er. „Außerdem sollte ich in eine Wohngruppe ziehen. Ich wollte doch in kein Internat.“ Nun teilt er mit seiner Frau eine Wohnung. Ostheeren dagegen suchte Entschleunigung nach Jahren als Chef-Saucier in der Sterneküche.

„Wir waren ein halbes Jahr im Voraus ausgebucht“, erinnert er sich, und an die Schichten von 14 bis 16 Stunden am Tag. „Ich wollte mehr Zeit mit meinem Sohn verbringen, also bin ich raus.“ Nun schmeißen beide gemeinsam die Hotelküche, experimentieren mit zwei Tage lang ziehender Brühe und getrockneten Wassermelonen.

Mitarbeiter im Inklusionshotel in Augsburg
Mitarbeiter im Inklusionshotel in Augsburg Christoph Püschner/ Zeitenspiegel

Elterninitiative gründet Hotel „EinsMehr“

Die Geschichte dieses Hotels ist die eines langen Aufbegehrens. Gegründet wurde es vom Verein „EinsMehr“ in Augsburg – einer Art Selbsthilfegruppe, in der sich seit 25 Jahren Eltern von Kindern mit Down-Syndrom engagieren. Anfangs ging es um praktische Fragen in WhatsApp-Gruppen: Welcher Optiker ist gut?

Als aus den Kindern Erwachsene wurden, machte man die Erfahrung: Zu 95 Prozent landeten sie in Werkstätten. Das machte die Eltern nicht wirklich glücklich. Der Komplex der Werkstätten in Deutschland umfasst knapp 300.000 Beschäftigte. Der Gesetzgeber formuliert einen klaren Auftrag: Die Werkstätten sollen fit machen für den allgemeinen Arbeitsmarkt. Doch die Übergangsquote dorthin liegt bei nur einem Prozent.

Arbeitsmarkt und Realität: Kaum Chancen auf Inklusion

Zwischen Anspruch und Wirklichkeit liegt mehr als ein breiter Spalt. In Werkstätten arbeiten Menschen meist unter sich, abgesondert von der Gesellschaft. Ihre Tätigkeiten beschreiben viele als Unterforderung: Kugelschreiber zusammendrehen oder Briefmarken kleben. Die Eltern des Augsburger Vereins fassten daher einen Entschluss – sie schufen die Jobs für ihre Kinder selbst.

Es ist zehn Uhr. In der Lobby setzt sich Jochen Mack auf einen Sessel, über ihm funkeln Lampenschirme wie Metallkäfige in Gelb, Blau, Grün und Rot. „Die Farben stehen für die Chromosomen des Menschen“, sagt er; Menschen mit Downsyndrom, wie sein Sohn, haben eines mehr. Vereinsmitglied Mack schaut kurz auf einen Kaffee vorbei.

Von der Idee zum erfolgreichen Inklusionshotel

Die Idee einer Hotelgründung sei binnen sieben Jahren herangewachsen, sagt er. Eine Gründungsberatung im Wert von 20.000 Euro übernahm die Soziallotterie „Aktion Mensch“. Sie ergab: Um tragfähig zu werden, müsse das Hotel mindestens 65 Zimmer haben und kein Verein sein. Also gründete der Verein eine gemeinnützige GmbH und ging auf Sponsorensuche.

Anschubgelder kamen vom Bezirk Schwaben und von der Stadt Augsburg. Es wurde zu Spenden aufgerufen, es gab Verlosungen und Benefizkonzerte – „am Ende waren 1,5 Millionen Euro zusammengekommen“, sagt Mack. Das Hotel startete im Frühjahr 2020. 73 Zimmer, 65 Prozent Belegung, 75 Prozent Geschäftsreisende, 20 Prozent Klinikangehörige, der Rest Touristen.

Gelebte Inklusion – und wirtschaftlicher Erfolg

Die Herberge läuft nun ohne Förderung – abgesehen von einem Leistungsminderungsausgleich, der die Personalkosten um 15 Prozent mindert. „Am Samstag waren wir ausgebucht“, sagt eine Frau im Vorbeigehen. Sandra Huerga Kanzler teilt sich mit ihrem Mann Raúl die Leitung des Hotels.

Als sie sich setzt, erzählt sie von Einstellungsgesprächen, bei denen Eltern von Bewerbern mit Behinderung fragten, wann der Mittagsschlaf sei. „Die sehen in ihren Kindern nach den Werkstatterfahrungen weniger deren Kompetenzen.“ Komme es aber zur Anstellung, lösten sich Bedenken auf. Nur ein Kollege habe das Hotel wieder verlassen – „seine Eltern machten Druck“.

Herausforderungen und Zukunftsängste der Eltern

Werkstätten winken mit Stabilität. Wenn deren Beschäftigte in Rente gehen, wird ihnen 80 Prozent des durchschnittlichen Verdienstes aller Versicherten angerechnet – auf dem freien Arbeitsmarkt droht dagegen Altersarmut. Allein deshalb scheuen viele den Wechsel. Wenn es um die Zahlen geht, sind Werkstätten eine Erfolgsstory – sie wachsen seit Jahren, obwohl es nicht mehr Menschen mit schweren Beeinträchtigungen gibt.

An der Bar macht Timo Schäfer eine kleine Pause. „Ziemlich anstrengend, so viele Sachen gleichzeitig“, bilanziert er seinen ersten Arbeitseinsatz. „So viele Leute.“ Mit seiner Autismus-Spektrum-Störung sei er oft auf sich allein gestellt. „Ich ticke eben anders. Aber wenn ich allein bin, kommen Ängste.“

Eine neue Arbeitswelt mit Sinn und Geduld

Die Arbeit hier mache auf ihn einen guten Eindruck. Hinter dem Tresen trocknet Till Hugenschmidt Gläser. „Ich tat mich anfangs auch schwer“, sagt er. „Die Umstellung nach der Werkstatt strengte echt an.“ Das Hotel bezeichnet sich nicht öffentlich als Inklusionshotel. „Wir wollen keinen Mitleidsbonus“, sagt Direktorin Huerga Kanzler.

Über die Werkstatt redet Hugenschmidt ungern. „Das Kapitel ist geschlossen“, sagt er. Hineingekommen sei er nach der Schule, „weil es dort nicht gut mit dem Lernen lief“. Er war zweieinhalb, als ein Auto ins Fahrzeug seiner Eltern krachte. Er flog durch die Windschutzscheibe, musste Laufen und Sprechen neu erlernen, hat seitdem Epilepsie. „Dieses neue Kapitel hier im Hotel ist sehr gut. Wir sind mittendrin.“

Inklusion als gesellschaftliche Verantwortung

Ein Mann kommt an den Tresen und bestellt einen Drink. Hugenschmidt gießt Bier ins gerade polierte Glas. Sie plaudern über das Wetter, den Verkehr und die Hubschrauber auf dem Krankenhausdach nebenan. „Die mag ich sehr“, sagt Hugenschmidt. Der Aktivist Raúl Krauthausen hat einmal gesagt: „Auch Nichtbehinderte haben ein Recht darauf, mit behinderten Menschen zusammenzuleben.“ In diesem Hotel bekommen sie die Gelegenheit dazu.

Im Frühstücksraum haben die letzten Gäste längst aufgegessen. Sandro Pozgaj setzt sich und klappt einen Laptop auf. Der Serviceleiter aktualisiert die Dienstpläne. „Wer es hier schafft, schafft es überall“, sagt er. Gastro sei eben kein Zuckerschlecken.

Ein Ort, der Arbeit und Menschlichkeit vereint

Pozgaj, 51, war früher in der kroatischen Gastronomie tätig, oft 24 Stunden am Stück. Nach einem Tumor, Stent und einer entnommenen Niere suchte er Veränderung. „Ich hatte kein Burnout, aber die Nerven lagen blank.“ Nach drei Wochen im Hotel „EinsMehr“ wollte er aufgeben. „Ein Mitarbeiter lief ständig hinter mir her, das überforderte mich.“ Doch er lernte Geduld – und schätzte sie bald.

„Ich vermisse das Brüllen aus meinen früheren Jobs nicht“, sagt er. Es ist, als hätten sich an diesem Ort Menschen gefunden, die alle eine andere Arbeit suchten – eine mit mehr Sinn. Zum Mittagessen setzen sie sich alle zusammen: Köche, Servicekräfte und die Direktoren.

Mitarbeiter im Inklusionshotel in Augsburg
Mitarbeiter im Inklusionshotel in Augsburg Christoph Püschner/ Zeitenspiegel

Einzigartiges Hotel in Augsburg lässt seine Chefs die 5-Sterne-Schuppen in Spanien vergessen

„Wie lief der erste Tag?“, fragt Sandra Huerga Kanzler. „Machbar. Kompliziert“, antwortet Schäfer. Bevor das Direktorenpaar nach Augsburg kam, leitete es 5-Sterne-Hotels in Spanien – ein Luxusleben mit Überheblichkeit und Ellenbogenmentalität. „Wir sahen, wie Putzkräfte nicht mehr gegrüßt wurden. Es wurde weniger unsere Welt.“

Der Verein hat inzwischen eine Akademie gegründet und bietet eine Qualifizierung zum „Hotelpraktiker“ an. „Noch ist die Ausbildung nicht anerkannt“, sagt Sozialpädagogin Ingrid Zink-Schieb. „Aber wir sind in Verhandlungen.“

Inklusion als Modell für die Zukunft

Menschen mit Lernbehinderung scheitern oft nicht an der Praxis, sondern an der Theorie. „Wir bringen sie anders bei – durch Erklären und Wiederholen.“ Doch die Zuständigkeit ist unklar: Bayern verweist auf den Bund, der Bund aufs Land. „Was wir hier machen, kann man auf alle Branchen übertragen“, sagt Zink-Schieb.

„Jeder Betrieb kann jemanden finden, der zu ihm passt.“ Schäfer, kurz vor Ende seines ersten Arbeitstages, räumt das Geschirr ab. „Wir haben doch einen Arbeitskräftemangel. Wir bilden Hilfskräfte aus, die Fachkräfte entlasten können.“ Zurück in der Küche bindet Schäfer die Schürze ab. Er hat die Wahl: Werkstatt oder Tarifvertrag. In welcher Gesellschaft wollen wir leben?

(Diese Reportage wurde realisiert mit Unterstützung des Journalismfund Europe.)