Ein Kommentar - Letzte Chance für echte Zeitenwende: Europa hat den Oval-Office-Eklat gebraucht

Die Aufnahmen aus dem Oval Office des Weißen Hauses vom Freitag waren schwer erträglich. Da sitzt der Präsident eines Landes, das sich seit drei Jahren in einem schrecklichen Krieg befindet, den es nicht begonnen hat, und wird vom US-Präsidenten und seinem Vize bedrängt, abgekanzelt, vorgeführt. „Sag Danke“ fordern sie mehrfach, als wäre er ein Kind, das einen Lolli geschenkt bekommen hat. 

Was Wolodymyr Selenskyj „geschenkt“ bekommen hat, ist kein Lolli, sondern Waffen und weitere Unterstützung im Kampf gegen russische Truppen, die in Ukraine eingefallen, Hunderttausende verletzt, Zehntausende getötet und schwer vorstellbare Kriegsverbrechen vergangen haben.

Was Europa daraus lernen muss

So unerträglich diese Szene war, so bitter nötig war es für Europa, sie zu sehen. Schon seit dem Angriff Russlands wird argumentiert, dass in der Ukraine auch die Freiheit Europas verteidigt wird. Aber irgendwie schienen sich doch viele darauf zu verlassen, dass es eben doch etwas anderes wäre, sollte Putin sich als nächstes ein anderes europäisches Land vorknöpfen. Ein EU-Mitglied angreifen, einen NATO-Staat angreifen, das würde der russische Präsident schon nicht wagen - zu groß die Abschreckung durch die NATO-Beistandsklausel mit den USA als Militärmacht.

Wer die Aufnahmen vom Freitag gesehen hat, dem muss klar sein: diese Gewissheit gibt es nicht mit einem US-Präsidenten Trump und einem Vize-Präsidenten Vance. Bittsteller Selenskyj, der sich vor Kameras bedanken soll und sämtliche Unterstützung riskiert, wenn er den Kniefall nicht zur Zufriedenheit seiner Gönner ausführt - das könnten auch ein deutscher Bundeskanzler sein oder eine EU-Kommissionspräsidentin. Diese Erkenntnis ist bitter, aber auch bitter nötig. 

Zeitenwende? Fehlanzeige!

Nach dem Überfall Russlands war viel von einer Zeitenwende die Rede. Was kam, waren beachtliche Anstrengungen, die Ukraine zu unterstützen, aber keine echte Zeitenwende für Europa. Wenn Europa auf sich gestellt wäre, wäre es nicht in der Lage, sich gegen alle aktuell denkbaren Bedrohungen zu verteidigen.

Die entscheidende Lektion

Was im Oval Office passiert ist, haben potenzielle Aggressoren gesehen. Aber auch alle europäischen Staats- und Regierungschefs und die EU-Spitzen. Sie haben es in der Hand, welche Schlüsse sie daraus ziehen. Diese entscheiden nicht nur über das Schicksal der Ukraine, sondern Europas. Wird das einfach? Nein. Wird das schnell gelingen? Nein. 

Aber es nicht zu versuchen und zu hoffen, dass die USA uns letztlich schon irgendwie raushauen werden, ist keine Option mehr. Endgültige, nicht zu verleugnende Klarheit darüber könnte das einzig Gute sein, was diese Vorführung gebracht hat.