Zahl der Aufstocker beim Bürgergeld steigt erstmals seit 2010 – Experten fordern Reformen
Zahl der Aufstocker beim Bürgergeld steigt erstmals seit 2010 – Experten fordern Reformen
Erstmals seit 2010 ist die Zahl der Menschen, die neben einem Job ihr Gehalt mit dem Bürgergeld aufbessern müssen, gestiegen. Experten nennen aktuelles System „leistungsfeindlich“.
Berlin – Rund 100.000 Bürgergeld-Beziehende sollen künftig pro Jahr aus dem System ausscheiden – dadurch will Andrea Nahles, Chefin der Bundesagentur für Arbeit, rund 1,5 Milliarden Euro sparen. Allerdings verläuft der Übergang in den Arbeitsmarkt nicht immer reibungslos: Viele können aufgrund der hohen Lebenshaltungskosten trotz einer Beschäftigung nicht vollständig auf staatliche Leistungen verzichten. Doch ein unveröffentlichter Kurzbericht des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) zeigt: Die Zahl der Aufstocker ist im Jahr 2024 erstmals seit 2010 wieder gestiegen.
Bürgergeld-Falle: Warum 800.000 Aufstocker 2024 ihr Gehalt mit Bürgergeld aufbessern müssen
Laut der Funke-Mediengruppe, die aus dem noch unveröffentlichten IW-Bericht zitiert, bezogen 2024 rund 30.000 Personen mehr Bürgergeld neben ihrem Beschäftigungsverhältnis. Seit 2010 war die Zahl der Aufstocker von 1,4 Millionen auf unter 800.000 im Jahr 2023 gefallen – ein Rückgang von rund 43 Prozent. Die Daten der Bundesagentur, die dem IW-Bericht zugrunde liegen, zeigen auch, dass der Anstieg zwischen November 2023 und 2024 aus 21.000 Ausländerinnen und Ausländern resultierte – die Zahl der deutschen Staatsangehörigen ging dagegen um 7000 zurück.

IW-Arbeitsmarktexperte Holger Schäfer sieht darin eine positive Tendenz: „Eine plausible Erklärung für diese Beobachtung wäre, dass es vielen Ausländern gelang, aus Beschäftigungslosigkeit heraus eine Arbeit zu finden, auch wenn diese nicht den Bedarf des Haushaltes decken konnte.“ So könne die Entwicklung auch als Teilerfolg gewertet werden, dass Bürgergeld-Beziehende zumindest einen Teil ihres Bedarfes aus eigener Kraft erwirtschaften konnten.
Koalitionsvertrag fixiert Sozialstaatsreform – Kanzler Merz verspricht Reformen für Herbst 2025
Zugleich betont Schäfer den Reformbedarf: Das Bürgergeld bringe zwar Erwerbsintegration, blockiere aber zugleich den Wechsel aus Teilzeit oder Minijobs in Vollzeit. Da der Großteil zusätzlichen Einkommens wieder angerechnet wird, entstehe kaum ein Anreiz, die Arbeitszeit auszuweiten. „Das ist für viele nicht attraktiv genug“, resümiert der IW-Experte.
In ihrem Koalitionsvertrag haben Union und SPD vereinbart, das Bürgergeld „zu einer neuen Grundsicherung für Arbeitssuchende“ umzugestalten: Vermittlung und Betreuung sollen stärker werden, zugleich Mitwirkungspflichten und Sanktionen verschärft und die Hinzuverdienst- sowie Transferentzugsregeln bis Ende 2025 aufeinander abgestimmt werden, damit Mehrarbeit spürbar mehr Einkommen bringt. Bundeskanzler Friedrich Merz hat entsprechende Maßnahmen für den Herbst angekündigt.
Auch Kai Whittaker, Arbeits- und Sozialexperte der Unions-Fraktion im Deutschen Bundestag, sieht in den IW-Zahlen bestätigt, dass die derzeitige Form des Bürgergeldes „leistungsfeindlich“ sei: „Wer mehr arbeitet, wird vom System bestraft – und hat am Ende nicht viel mehr im Portemonnaie.“ Dabei solle der Sozialstaat eigentlich Menschen helfen, wieder auf eigenen Beinen stehen zu können.
CDU-Experte: „Wer mehr arbeitet, wird vom System bestraft“ – keine Vollzeit-Brücke im System
In diesem Zusammenhang sieht das IW besonders bei Bürgergeld-Beziehenden mit Familie Reformbedarf. Die Sozialpolitik müsse neben den Erwerbsanreizen auch die realen Lebenshaltungskosten der Familien stärker berücksichtigen. Rund zehn Prozent der insgesamt 800.000 Aufstockenden müssen ihr Einkommen trotz Vollbeschäftigung mit dem Bürgergeld aufbessern. Das liege laut IW auch daran, weil zwei Drittel dieser 80.000 Beschäftigten alleinerziehend oder in Paarhaushalten mit Kindern leben. „In diesen Fällen spielt für das Vorliegen von Bedürftigkeit eine Rolle, dass der Bedarf des Haushaltes durch die höhere Anzahl der Haushaltsmitglieder erhöht ist“, heißt es in dem Bericht.
Von den 800.000 sind zudem 500.000 teilzeit- oder geringfügig beschäftigt. Andreas Peichl vom Ifo-Institut in München bemängelt gegenüber der Süddeutschen Zeitung etwa, dass in Deutschland zwei Sozialsysteme parallel existierten, die überhaupt nicht aufeinander abgestimmt seien: „Einerseits das Bürgergeld, andererseits das Wohngeld und den Kinderzuschlag.“
ifo-Institut plädiert für ein System für alle Sozialleistungen – SPD wirbt für Mindestlohn
Auch der Experte kommt schließlich zu dem Urteil, dass es sich in vielen Fällen nicht lohne, mehr zu arbeiten. Als Lösung schlägt der Ökonom vor, das Wohngeld und den Kinderzuschlag als getrennte Leistung abzuschaffen und in das Bürgergeld oder in eine neue Variante der Grundsicherung zu integrieren. „Wohngeld und Kinderzuschlag wurden nur eingeführt, damit man Menschen aus der Bürgergeld-Statistik herausholt“, urteilt Peichl. Passiert ist allerdings das Gegenteil.
Dirk Wiese, Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, sieht in den aktuellen Zahlen ein deutliches Signal für einen höheren Mindestlohn. Wer Vollzeit arbeitet, müsse davon leben können, fordert der SPD-Politiker. Zudem betont er, dass die Mehrheit der Empfänger tatsächlich arbeiten und der Arbeitslosigkeit entfliehen wollen. Hier solle die Politik der Sozialdemokraten künftig mit Reformen gezielt ansetzen, um den Menschen wieder zu signalisieren, dass gute Arbeit wieder Respekt verdient: „Und das heißt bessere Löhne, gezielte Förderung und ein Sozialstaat, der unterstützt und nicht bestraft.“ Insgesamt beziehen derzeit in Deutschland 5,5 Millionen Menschen Bürgergeld.