„Stolpertexte“ erzählen Lebensgeschichten getöteter Juden in Nazi-Deutschland
Das Leo-Baeck-Institut hat Millionen an Briefen, Tagebüchern und Fotoalben deutscher Juden gesammelt, die von den Nazis getötet wurden. Nun ist aus diesen Quellen ein einzigartiges Literaturprojekt geworden.
Berlin - Die Erinnerung an die Verbrechen an den Jüdinnen und Juden Europas durch Nazi-Deutschland hat seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges Eingang in Zeitzeugenerzählungen gefunden. Menschen jüdischen Glaubens gehen in Schulen, sie setzen sich in Gesprächsrunden oder sprechen vor dem Deutschen Bundestag über die ideologisch geplante und industriell durchgeführte Vernichtung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden während der Zeit des Nationalsozialismus.
Fast achtzig Jahre nach Kriegsende und der Befreiung von Auschwitz sind immer weniger dieser Zeitzeugen am Leben, die aus eigener Anschauung von Verfolgung, Vertreibung und Shoah berichten können. „Was geschieht, wenn die letzten Zeitzeugen eines Tages gestorben sein werden?“, fragen sich Menschen wie Matthias Pfeffer, die „die Erinnerung an diese Menschheitskatastrophe wachhalten“ wollen.
Matthias Pfeffer hat seine eigene Antwort gefunden. Er gründete ein literarisches Erinnerungsprojekt. Unter dem Titel „Stolpertexte“ sind Autorinnen und Autoren auf Spurensuche gegangen: Im Archiv des Leo-Baeck-Instituts New York stießen sie auf persönliche Lebenszeugnisse deutscher Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus. Es entstanden literarische Texte, die, ähnlich den Stolpersteinen in europäischen Städten, an die Menschen erinnern, die in die Vernichtungsmaschinerie der Nazis gerieten.
„Aus historischem Material lebendige Texte gemacht“
Das einzigartige Literaturprojekt wird am Donnerstag, 21. März, auf der Leipziger Buchmesse der Öffentlichkeit vorgestellt. „Bisher haben rund dreißig Autorinnen und Autoren mitgemacht“, erzählt Ideengeber Pfeffer. „Das Archiv des Leo-Baeck-Instituts ist ja digital wunderbar erschlossen.“ Die Sammlung umfasst Millionen an Briefen, Tagebüchern und Fotoalben deutschsprachiger Juden. „Die Schriftsteller haben aus dem historischen Material lebendige Texte gemacht.“
Zum Kreis der Spurensucher gehören unter anderen Ulrike Draesner und Olga Grjasnowa, Moritz Rinke und Norbert Hummelt, Tijan Sila, Karosh Taha und Julie Zeh. „Damit sie nicht ratlos vor dem riesigen Archiv des Leo-Baeck-Instituts stehen, haben wir die Autorinnen und Autoren gefragt, ob es einen besonderen Ort gibt, an dem sie ihre Erzählung spielen lassen könnten“, erklärt Pfeffer. „Wir haben sie gefragt, wo sie ihren literarischen Gedenkstein für verfolgte Jüdinnen und Juden sehen.“
Die „Stolpertexte“ sollen als gekürzte Fassung vor allem in den Gegenden veröffentlicht werden, in denen die Verfolgten früher lebten. So könnten lokale Medien oder die Internetkanäle der Gemeinden, aus denen die Menschen vertrieben oder in denen sie ermordet wurden, die Texte aufgreifen. Auch das Leo-Baeck-Institut wird sie auf seine Homepage laden. „Das Geschichtenerzählen ist von zentraler Bedeutung dafür, wie wir unsere Welt und uns selbst verstehen“, sagt Markus Krah, Direktor des Leo-Baeck-Instituts. „Diese kurzen Texte laden Leserinnen und Leser ein, sich das Leben der Menschen vorzustellen, die Spuren in unseren Archiven hinterlassen haben.“
Die „hochpolitische Botschaft“ für die Gegenwart
Initiator und Co-Kurator Pfeffer sieht darin eine „hochpolitische Botschaft“ für die Gegenwart, in der extrem rechte Politiker von „Remigration“ sprechen und Wannsee-Konferenz spielen. „Antisemitismus ist das wichtigste Erkennungszeichen für Autoritarismus und Totalitarismus“, sagt der studierte Philosoph und Journalist. „An antisemitischen und rassistischen Einstellungen erkennt man wie in einem Frühwarnsystem, wie es um die gesellschaftliche Freiheit bestellt ist.“
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Wie gelingt in seinem Erinnerungsprojekt der Brückenschlag zwischen den historischen Fakten und einem literarischen Text? Pfeffer reagiert auf die Frage mit einer Gedichtszeile von Friedrich Hölderlin: „Was bleibt aber, stiften die Dichter.“ Darin liege das Motiv der Autorenarbeiten.
Ulrike Draesner erzählt in den „Stolpertexten“ von der nach Theresienstadt verschleppten Alma Landshut. „Als Autorin, die Literatur schreibt, muss ich ja eigentlich keine Angst vor Lücken haben“, erklärt Draesner. „Ich muss sie auch nicht auffüllen. Ich kann versuchen, mit ihnen umzugehen.“