"Gangster von Regierung mobilisiert" - Anti-russische Massenproteste in Georgien: „Ausmaß an Polizeigewalt ist unvorstellbar“
Herr Japaridze, seit Ende vergangener Woche protestieren Sie jede Nacht gegen Ihre russlandfreundliche Regierung und deren Entscheidung, die EU-Perspektive Georgiens auf Eis zu legen. Wie viele Stunden haben Sie zuletzt geschlafen?
Ich habe seit Monaten den Überblick darüber verloren, wie viel ich schlafe, weil ich neben meiner politischen Tätigkeit auch noch als Dozent an mehreren Universitäten unterrichte.
Aber die vergangenen Nächte habe ich alle komplett auf der Rustaveli-Allee im Stadtzentrum von Tiflis verbracht und protestiert.
Mal komme ich um sieben Uhr morgens nach Hause, mal um neun Uhr. Ich halte es für meine Pflicht, in diesen schwierigen Tagen an der Seite der Bürger zu stehen.
Die Polizei geht äußerst hart gegen Demonstrierende vor. Erschreckt Sie das Ausmaß der Gewalt?
Es ist unvorstellbar. Neben der regulären Polizei sind auch paramilitärische Gruppen im Einsatz. Das sind schwarz gekleidete Männer, die die Leute überfallen, teils vor ihren Häusern.
Diese Gangster werden von der Regierungspartei Georgischer Traum mobilisiert und treten noch gewalttätiger auf. Menschen werden geschlagen. Menschen werden gefoltert. Erwachsene, Minderjährige, Studierende, schwangere Frauen.
Es gibt bereits Schwerverletzte. Ein Demonstrant liegt im Koma. Mein Bruder Zurab Japaridze – er ist ebenfalls Politiker – wurde vor einigen Tagen festgenommen. Mittlerweile ist er zum Glück wieder in Freiheit.
Der Regierung wird vorgeworfen, die Parlamentswahl im Oktober manipuliert zu haben und Georgien in einen autoritären Staat nach russischem Vorbild verwandeln zu wollen. Sind die Proteste eine letzte Chance, das Blatt noch zu wenden?
Wenn Georgischer Traum an der Macht bleibt, dann werden sie die gesamte Opposition unterdrücken – und zwar mithilfe eines sogenannten russischen Gesetzes, das sie noch vor der Wahl verabschiedet haben.
Sie wollen alle Nichtregierungsorganisationen schließen, alle freien Medien und freien Universitäten. Das haben sie im Wahlkampf versprochen.
Was würde Oppositionellen wie Ihnen konkret drohen?
Wenn die Regierung sich jetzt durchsetzt, dann werden sie kommen und uns einen nach dem anderen festnehmen.
Wir werden dann vor der Wahl stehen, vor der auch russische Oppositionelle immer wieder stehen: Entweder wir gehen ins Exil wie Garri Kasparow. Oder wir bleiben in Georgien, dann wird uns dasselbe Schicksal treffen wie Alexej Nawalny.
Das klingt sehr dramatisch.
Ich übertreibe keinesfalls. Wenn Georgischer Traum an der Macht bleibt, werde ich mein Land verlassen müssen, weil es hier dann keine Chance mehr für mich geben wird, zu überleben.
Auch viele andere Menschen würden aus Georgien fliehen, vor allem die Jüngeren. Niemand von ihnen will in einem prorussischen Staat unter autoritärer Herrschaft leben.
Alles, was heute in Georgien passiert, ist übrigens auch ein Ergebnis der Fehler unserer internationalen Partner.
Wie meinen Sie das?
Seit die Partei Georgischer Traum im Jahr 2012 an die Macht kam, waren westliche Staaten immer sehr optimistisch. Sie haben uns nicht geglaubt, dass diese Regierung extrem prorussisch ist, dass wir es hier faktisch mit russischen Kräften zu tun haben.
Erst dieses Jahr – nach der Verabschiedung der repressiven Gesetze – haben sie verstanden, dass Georgischer Traum nicht ihr Freund ist.
Was sollte jetzt passieren?
Wir warten auf konkrete Schritte unserer internationalen Partner. Denn bislang kamen vonseiten der USA und der EU nur leere Statements.
Stattdessen sollten Sanktionen beschlossen werden. Und zwar nicht einfach Visa-Beschränkungen, sondern Finanzsanktionen.
Diese Proteste sind riesig. Aber selbst eine Million Georgier wären nicht in der Lage, Russland zu besiegen. Wir brauchen die Unterstützung Europas und der Vereinigten Staaten von Amerika.
Gegen wen sollten sie sich richten?
Zum Beispiel gegen Bidsina Iwanischwili, den Gründer von Georgischer Traum. Und gegen Premierminister Irakli Kobachidse.
Gegen Mitglieder der Regierungspartei, gegen Parlamentsabgeordnete, gegen deren Familienmitglieder. Gegen Unternehmen, die die Partei unterstützen. Gegen staatliche Institutionen.
Und sanktioniert die Propaganda-Maschinerie! Man kann sich das Ausmaß prorussischer Propaganda kaum vorstellen, das etwa der regierungsnahe Fernsehsender Imedi TV zeigt. Er ist so etwas wie das Macht-Fundament von Georgischer Traum.
Ein Beispiel: Premierminister Kobachidse erklärt, dass die EU-Beitrittsgespräche bis 2028 ausgesetzt werden. Und was macht Imedi TV? Sie behaupten einfach, es sei umgekehrt gewesen und die EU hätte alle Verhandlungen mit Georgien gestoppt.
Können die aktuellen Proteste einen Rücktritt der Regierung erzwingen?
Diese Proteste sind riesig. Es sind mitunter 200.000 Menschen auf den Straßen. Ich erinnere mich an keine vergleichbaren Proteste in diesem Land. Aber wir müssen auch verstehen, dass wir gerade gegen Russland kämpfen. Russland ist größer und stärker als 200.000 Georgier.
Selbst eine Million Georgier wären nicht in der Lage, Russland zu besiegen. Wir brauchen die Unterstützung Europas und der Vereinigten Staaten von Amerika. Bislang sehen wir sie nicht.
Von Hannah Wagner
Das Original zu diesem Beitrag "Anti-russische Massenproteste in Georgien: „Das Ausmaß an Polizeigewalt ist unvorstellbar“" stammt von Tagesspiegel.