Russland lockte mit Versprechungen - Nach Kreml-Zusagen: Ukrainer erleben nach Rückkehr in besetzte Heimat brutale Realität
Als Maria vor rund sechs Monaten aus dem Moskauer Flughafen Scheremetjewo in Moskau ins Freie tritt, empfindet sie nichts als Erleichterung. Die 52 Jahre alte Ukrainerin hat gerade die sogenannte Filtration hinter sich gebracht: Gemeint ist damit stundenlange Befragung und Durchsuchung durch Russlands Geheimdienst FSB.
Einige Tage später ist sie endlich wieder zu Hause: in Mariupol in der Ostukraine. „Heimat ist einfach Heimat“, teilt Maria, deren Namen aus Sicherheitsgründen geändert wurde, dem Tagesspiegel per Whatsapp-Nachricht mit. Sie ist froh, wieder in der Industrie- und Hafenstadt am Asowschen Meer zurück zu sein.
Und doch ist alles anders als vor knapp drei Jahren, als Maria Mariupol kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs verließ: Wochenlang belagerte Russlands Armee damals die Stadt, Tausende Menschen wurden getötet, Zehntausende vertrieben. Schließlich mussten sich die letzten ukrainischen Kämpfer geschlagen geben.
Heute ist vieles zerstört – auch das Haus, in dem Maria einst lebte. Und Mariupol ist fest in der Hand der Russen. Eine Rückkehr dorthin bedeutet zwangsläufig ein Leben unter feindlicher Besetzung. Und der Weg dorthin führt immer über Russland.
Rückkehr in russisch besetztes Mariupol: Entschädigung für zerstörte Wohnung
Maria hat sich ihre Entscheidung nicht leicht gemacht. Immerhin hat sie sich in Deutschland in den vergangenen Monaten ein Leben aufgebaut, hat Deutsch gelernt. Trotzdem hatte sie Heimweh.
Irgendwann erfuhr sie: Wenn sie nach Mariupol zurückkehrt, dann versprechen die neuen russischen Machthaber ihr eine finanzielle Entschädigung für ihre Zweizimmerwohnung, die sie kaputtgebombt haben.
Alternativ kann sie angeblich auch darauf hoffen, eine leer stehende Wohnung zugeteilt zu bekommen, hieß es. Denn im Frühjahr 2024 kündigten die Besatzungsbehörden an, leer stehende Wohnungen von vertriebenen Ukrainern zu beschlagnahmen und an Bedürftige zu verteilen.
Maria hat jetzt einen russischen Pass, es war eine Bedingung für die Rückkehr
Letztlich entschied Maria sich für eine Rückkehr nach Mariupol. Selbst den russischen Pass anzunehmen, war sie bereit – eine weitere Bedingung für Ukrainer, die in ihre besetzte Heimat zurückkehren wollen.
Fühlt sie sich als Verräterin an der Ukraine? Diese Frage will Maria nicht beantworten. Stattdessen sagt sie: „Ich habe mein ganzes Leben lang hart gearbeitet, um für die Wohnung zu sparen, die ich hatte. Ich möchte im Rentenalter nicht obdachlos sein.“
Bei Ankunft an Moskauer Flughafen werden Telefone durchsucht
Marias beschwerliche Reise führte sie zunächst von Mannheim über Frankfurt ins türkische Antalya, denn aus EU-Staaten gibt es kriegsbedingt keine Direktflüge nach Russland mehr. Von Antalya ging es mit dem Flugzeug nach Moskau – und dort wartete die bereits erwähnte Filtration.
Alle Ukrainer, die am Flughafen Scheremetjewo ankommen, müssen das Verfahren durchlaufen. Russische Geheimdienstmitarbeiter überprüfen den Inhalt ihrer Telefone auf alles, was auf eine positive Gesinnung gegenüber der Regierung in Kiew hindeuten könnte.
Wer etwa Verwandte im ukrainischen Staatsdienst oder in der Armee hat, kann eine Weiterreise so gut wie vergessen. Im schlimmsten Fall droht sogar eine Festnahme – zum Beispiel, wenn die russischen Ermittler die eingereiste Person selbst der Zusammenarbeit mit dem ukrainischen Militär verdächtigen.
Wie sich Ukrainer auf Fragen bei Einreise in Moskau vorbereiten
Unter die Lupe genommen werden Kontaktdaten, Chats, Beiträge und Likes in sozialen Netzwerken. Weil das Verfahren so aufwendig ist und die Anzahl der Menschen groß, werden einige mehr als einen Tag lang festgehalten.
Viele rückkehrwillige Ukrainer tauschen sich deshalb im Internet untereinander aus, verraten Tipps und Tricks, wie man die russische Kontrolle übersteht.
83.000 Ukrainer reisten in einem Jahre ein, 24.000 kamen in Russland nicht rein
Ein Ratschlag lautet: glaubhafte Lügengeschichten parat haben – zum Beispiel für den Fall, dass ein Kontakt im persönlichen Telefonbuch von den russischen Beamten als ukrainischer Soldat identifiziert wird. „Sagen Sie dann einfach, dass diese Person vor zehn Jahren ihre Heizungsanlage ausgetauscht hat“, heißt es in einer Facebook-Gruppe.
"Oft ist es keine Frage der Ideologie, sondern eine Frage des elementaren Überlebens" Petro Andrjuschtschenko
Nach Angaben des russischen Grenzdienstes reisten zwischen Oktober 2023 und Oktober 2024 rund 83.000 Ukrainer über den Flughafen Scheremetjewo nach Russland ein. 24.000 bestanden das Filtrationsverfahren demnach nicht. Einige ukrainische Beobachter gehen von deutlich mehr abgewiesenen Menschen aus.
Maria aus Mariupol jedenfalls hatte keine Probleme an der russischen Grenze: „Auf meinem Handy war kaum etwas Verdächtiges, sondern vor allem Kochrezepte und Fotos von Blumen“, erinnert sie sich.
Es gibt keine offiziellen Zahlen, wie viele Ukrainer bereits über Russland in ihre besetzte Heimat zurückgekehrt sind. Schätzungen zufolge nahmen in den vergangenen Jahren zwischen 100.000 und 150.000 rückkehrwillige Menschen die russische Staatsbürgerschaft an – von mehreren Millionen, die vor der russischen Armee ins Ausland oder auf ukrainisch kontrolliertes Gebiet flohen.
Von einem Massenphänomen kann also keine Rede sein. Trotzdem ist Maria bei Weitem kein Einzelfall – und über Geschichten wie ihre wird deshalb in der Ukraine heftig gestritten.
„Oft ist es keine Frage der Ideologie, sondern eine Frage des elementaren Überlebens“, sagt Petro Andrjuschtschenko, der bis zum Fall von Mariupol Berater des Bürgermeisters war und heute in Kiew ein Zentrum zur Erforschung der russischen Besatzung leitet.
Geflüchteten aus besetzten Gebieten steht kein Anspruch auf Entschädigung für verlorenen Wohnraum zu
Insbesondere Binnenflüchtlinge, die in andere ukrainische Regionen flohen, hätten es oft schwer, schildert er: Nicht allen Familien gelinge es, sich im Exil ein neues Leben aufzubauen. In vielen ukrainischen Städten, die weit genug von der Front entfernt sind, um verhältnismäßig sicher zu sein, seien zudem die Mieten so hoch, dass die vertriebenen Menschen sie sich nicht leisten könnten.
Hinzu kommen laut Andrjuschtschenko unzureichende Hilfen durch den ukrainischen Staat. So steht etwa Geflüchteten aus besetzten Gebieten kein Anspruch auf Entschädigung für verlorenen Wohnraum zu.
Anders sei das bei Menschen, deren Häuser auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet durch einen Bombenangriff zerstört wurden, in Cherson etwa oder in Charkiw. „Psychologisch ist es für die Menschen schwer, dies zu akzeptieren“, sagt Andrjuschtschenko. „Sie fühlen sich benachteiligt.“
„Ich halte es für Verrat, auch wenn es menschlich zu verstehen ist“
Die Entscheidung der Regierung, in den vergangenen Jahren stufenweise Mietzuschüsse für einen Großteil der Binnenflüchtlinge zu streichen, führte zu einer neuen Welle der Rückkehr unter Besatzung. Auch wenn es sich dabei um einen symbolischen Betrag handelte – 45 Euro pro Monat für Erwachsene und 67 Euro für Kinder – war dies für viele bis dahin eine bedeutende finanzielle Hilfe gewesen.
Trotz allem hat Andrjuschtschenko eine klare Meinung gegenüber den Rückkehrern: „Ich halte es für Verrat, auch wenn es menschlich zu verstehen ist.“
Zurück in Mariupol: Maria hat weder eine Wohnung noch Entschädigung bekommen
Die 52 Jahre alte Maria wiederum ist aus einem ganz anderen Grund ernüchtert. Sie ist mittlerweile bereits seit einigen Monaten zurück in Mariupol – doch weder eine neue Wohnung noch eine Entschädigungszahlung sind in Sicht.
Momentan lebt sie bei ihren Eltern, zumindest deren Wohnung ist noch intakt. Inzwischen hält Maria es für möglich, dass sie auf die ersehnte eigene Wohnung noch Jahre warten muss.
Video an Putin: Beschwerde über gebrochenes Versprechen
Mit ihrem Frust ist sie nicht allein: Mehrere wohnungslose Mariupoler haben sich zusammengetan und im Januar eine Videobotschaft an Kremlchef Wladimir Putin aufgenommen.
Darin beschweren sie sich, dass die neuen Machthaber in ihrer Stadt sich nicht an das Versprechen von Wohnraum und Entschädigung halten.
Petro Andrjuschtschenko, den ehemaligen Bürgermeisterberater, wundert das nicht. Immerhin wurden Angaben der Besatzungsverwaltung bislang gerade einmal 4500 Wohnungen neu vergeben. „Das sind weniger als zehn Prozent der Wohnungen, die zerbombt wurden.“
Von Valeriia Semeniuk
Das Original zu diesem Beitrag "„Ich halte es für Verrat“: Trotz großer Kritik ziehen manche Ukrainer in russisch besetzte Gebiete" stammt von Tagesspiegel.