„SOS-Ruf wurde ignoriert“: Mindestens 60 Tote bei Schiffstragödie im Mittelmeer

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Tagelang trieben sie hilflos auf dem Mittelmeer, den Notruf beachtete niemand. Ein Rettungsteam findet schließlich 25 Überlebende, die Schreckliches hinter sich haben.

Ancona – Verbrennungen durch die gnadenlos sengende Sonne. Hunger. Durst. Um die 80 Menschen litten tagelang im Mittelmeer, trieben auf einem manövrierunfähigen Schlauchboot. Mindestens 60 von ihnen überlebten die Tortur nicht.

Schlimmer Vorfall im Mittelmeer: 60 Menschen sterben auf Schlauchboot – viele Kinder an Bord

„Die Überlebenden waren sieben Tage vor der Rettung von Zawiya (Lybien, d.R.) aus gestartet. Ihr Motor ging nach drei Tagen kaputt, sodass ihr Boot tagelang trieb, ohne Wasser und Nahrung“, schreibt SOS Mediteranée nach dem Rettungseinsatz am 13. März. Das Team der Ocean Viking evakuierte 25 Personen aus dem Schlauchboot, allesamt in einem „schlimmen physischen und psychischen Zustand.“

Zufällig erspähte die Ocean Viking das Schlauchboot im Mittelmeer: Das Team rettete 25 Menschen.
Zufällig erspähte die Ocean Viking das Schlauchboot im Mittelmeer: Das Team rettete 25 Menschen. © Johanna de Tessières/SOS Mediteranée

Unter den Überlebenden waren zwölf unbegleitete Minderjährige, präzisiert SOS Mediteranée auf Anfrage von IPPEN.MEDIA. Außerdem waren zwei bewusstlose Menschen an Bord, die vom Rettungsteam nicht wiederbelebt werden konnten. In Zusammenarbeit mit der italienischen Küstenwache brachte sie ein Rettungshubschrauber in ein Krankenhaus in Sizilien. Um die 60 Personen kamen auf der Fahrt ums Leben, darunter Frauen und mindestens ein Kind, berichteten Gerettete dem NGO. Italienische Medien sprechen von fünf toten Kindern.

„SOS blieb unbeachtet“: Schlauchboot vor in Italien in Not – Menschen schrien noch um Hilfe

Hätte die Rettung deutlich früher stattfinden können? Vermutlich. Denn: „Das SOS blieb unbeachtet“, schreibt die Zeitung La Repubblica und La Stampa berichtet, niemand habe auf den SOS-Ruf der Notrufzentrale „Alarm Phone“ reagiert. Das NGO hatte mehrere Tage zuvor ein Beiboot mit 75 Menschen an Bord gemeldet, die um Hilfe riefen.

Ob es sich dabei tatsächlich um dasselbe Boot handelte, kann SOS Mediteranée nicht mit Sicherheit bestätigen. Zeit und Ort passen allerdings zusammen. Und auch Aussagen von Geretteten. „Überlebende haben zweimal einen Helikopter gesehen und versucht, ihn auf sie aufmerksam zu machen“, sagt eine Sprecherin.

Aufschrei nach Bottsunglück in Italien: Notruf vermutlich ignoriert – und nach Rettung kommt nächste Tortur

In Italien ist die Empörung groß. „Es ist inakzeptabel, dass ein beschädigtes Schiff eine Woche lang auf See bleibt, ohne dass es jemand bemerkt“, mahnt SOS-Mediteranée-Generaldirektorin Valerie Taurino. Die Zustände auf dem Mittelmeer sind teils skandalös, erst im Sommer vergangenen Jahres wurden 100 Kinder im Frachtraum eines Schiffes gefunden, das vor Griechenland verunglückt war.

Letztendlich erreichte die Rettung das Schlauchboot dann durch reinen Zufall. Das Flugzeug „Sea World II“ hatte die Position eines anderen hilflosen Schiffs an die Ocean Viking durchgegeben. Auf dem Weg dahin erspähte die Besatzung das Boot mit 25 Überlebenden von der Brücke aus. Danach mit ihnen an Bord weiter zum ursprünglichen Einsatz. Die Ocean Viking rettete dort weitere 224 Menschen.

Lange Fahrt nach der Rettung: SOS Mediteranée warnt, „die Reise von 1450 km birgt die Gefahr, dass sich der Zustand der Überlebenden verschlechtert.“
Lange Fahrt nach der Rettung: SOS Mediteranée warnt, „die Reise von 1450 km birgt die Gefahr, dass sich der Zustand der Überlebenden verschlechtert.“ © Johanne de Tessières/SOS Mediteranée

Mit dem Eintreffen des Rettungsteams endete die Tortur für die Überlebenden aber nicht. Das Rettungsschiff muss in die Hafenstadt Ancona, weit im Norden von Italien. An anderen Häfen darf es nicht anlegen. „Der Hafen ist 1450 Kilometer entfernt, das bedeutet eine weitere Belastung für die Geretteten“, sagt SOS Mediteranée. Das italienische Innenministerium habe die Bitte nach Zuweisung eines näher gelegenen Hafens nicht beantwortet, heißt es. „Es ist nicht angemessen, dass das Schiff nach so einer Tragödie eine so lange Reise auf sich nimmt – ein schreckliches Ereignis“, sagt UNHCR-Sprecher Filippo Ungaro zu La Stampa. Seenotrettungs-Organisationen klagen momentan gegen Italien wegen dieser Praxis der weit entfernten Häfen. (moe)

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