Deutsche Wirtschaft am Scheideweg – sie könnte alles verlieren
Es scheint, als kläre sich das wirtschaftliche Wetter auf – erste Lichtblicke werden ausgemacht, Konjunkturprognosen zeigen leicht nach oben, und mancher spricht bereits von einer vorsichtigen Erholung. Doch wer nur auf kurzfristige Helligkeit schaut, übersieht leicht die dunkleren Wolken am Horizont.
Denn hinter den positiven Signalen verbergen sich strukturelle Schwächen, die sich nicht mit einem Konjunkturzyklus kurieren lassen – und die vor allem schnelles wie langfristiges Regierungshandeln erfordern.
Die deutsche Wirtschaft steht an einem Scheideweg – und dieser verläuft nicht entlang von Umfragen oder Quartalszahlen, sondern tief durch Fragen der Wettbewerbsfähigkeit, Bildungspolitik, technologischen Souveränität und globalen Positionierung.
Es ist an der Zeit, hinter das scheinbar freundlichere Wetter zu blicken. Dorthin, wo sich entscheidet, ob Deutschland seine Rolle als ökonomische Führungsmacht behaupten kann oder schleichend an Strahlkraft verliert.
Diese Felder entscheiden über Deutschlands wirtschaftliche Relevanz
Um die Lage wirklich zu verstehen, hilft ein Blick auf den Kern – auf jene industriellen und technologischen Felder, die künftig über Deutschlands wirtschaftliche Relevanz entscheiden werden.
Natürlich ist die Wirtschaft mehr als dieser Ausschnitt, doch gerade dieser Kern wird darüber bestimmen, ob Deutschland ökonomische Weltmacht bleibt oder in die Zweitklassigkeit abrutscht.
Über Andreas Herteux
Andreas Herteux ist ein deutscher Wirtschafts- und Sozialforscher, Publizist und der Leiter der Erich von Werner Gesellschaft. Er ist zugleich Herausgeber und Co-Autor des Standardwerks über die Geschichte der Freien Wähler (FW). Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt.
Der Rest ist dann eher ergänzende Peripherie. Entscheidend dafür ist der künftige Erfolg in zehn Schlüsselindustrien, die jedoch an dieser Stelle um eine elfte ergänzt werden sollen – eine Branche, deren Fortschritte zwar das Leben sehr vieler Menschen tagtäglich beeinflussen, deren dahinterliegende Wertschöpfungskette aber nur selten erkannt wird.
Gerade diese elfte Industrie stellt die Tür in die Köpfe der Menschen dar. In China wird man diesen Satz verstehen. Vermutlich bei Google & Co. auch.
Die Branchen sind:
- Maschinen für die Landwirtschaft;
- Schiffbau und Meerestechnik;
- Energieeinsparung und Elektromobilität;
- Neueste Informations- und Kommunikationstechnologien;
- High-End gesteuerte Werkzeugmaschinensysteme und Robotertechnologie;
- Elektrizitätsanlagen;
- Anlagen für Luft- und Raumfahrttechnik;
- Neue Werkstoffe und Materialien;
- Moderne Anlagen für den Schienenverkehr;
- Biomedizin und High-Performance-Medizingeräte;
- Verhaltenskapitalistische Verwertung von digitalen Abschöpfungen.
In vielen dieser Bereiche war Deutschland – man denke nur an die Automobilindustrie oder den Maschinenbau – einst mit federführend, verliert jedoch inzwischen massiv an Wettbewerbsfähigkeit. In anderen Branchen war die deutsche Wirtschaft leider stets nur Begleiter.
Die Herausforderungen sind daher so groß, dass kurzfristige Maßnahmen wie das aktuelle Konjunkturpaket zwar zwingend notwendig erscheinen, soweit sie auch zielführend angewandt werden.
Doch die Strategie muss langfristig ausgerichtet sein. Sie muss zudem holistisch gedacht werden und ökonomische, geopolitische, technologische sowie gesellschaftliche Entwicklungen einbeziehen.
Dies in aller Kürze darzustellen, ist kaum möglich. Deshalb soll der Fokus auf drei zentrale Punkte gelegt werden, wenngleich auch noch mehr einer Betrachtung wert wären:
1. Umsteuerung im Ausbildungssystem
Haben wir in Deutschland einen Fachkräftemangel – wo doch die demografische Entwicklung wirkt und neue Technologien wie künstliche Intelligenz manche Arbeitsplätze überflüssig machen werden? Die Antwort ist zwiegespalten: Ja, haben wir – allerdings keinen marktgerechten, sondern einen selbst erschaffenen.
Es ist eine schlichte Fehlsteuerung, die sich an zwei einfachen Zahlen aufzeigen lässt: Die Studienanfängerquote, also der Anteil eines Geburtsjahrgangs, der ein Studium aufnimmt, betrug im Jahr 2000 noch 33,3 Prozent. Im Jahr 2023 waren es bereits 56,5 Prozent.
Gleichzeitig wurden aber wichtige Bereiche wie das Handwerk oder die Pflege nicht oder kaum akademisiert. Oder vereinfacht gesagt: Es wurde ein System geschaffen, in dem bestimmte Ausbildungswege so attraktiv sind, dass in anderen Mängel entstehen – und trotz sinkender Nachfrage keine Marktkorrektur erfolgt. Ein strukturelles Desaster, das für jede Bundesregierung Anlass zu grundlegenden Reformen sein müsste.
Erschwert wird das Ganze dadurch, dass gerade junge Menschen – und dies ist der Grund, warum die Schlüsselindustrien um einen elften Punkt erweitert wurden – digitalen Beeinflussungen ausgesetzt sind, die neue Normwirklichkeiten schaffen. Man geht sogar davon aus, dass bis zu 1,2 Millionen junge Menschen, gerne auch NEETs (Not in Education, Employment or Training) genannt, aus verschiedenen Gründen schlicht nichts tun und den Sprung in den Arbeitsmarkt nicht vollziehen. Das strukturelle Desaster ist daher noch größer als angenommen.
Generell verkommen Schulen zunehmend zu Reparaturbetrieben, die letztlich nur noch Symptome bekämpfen, aber keine Ursachen – da Mensch und Persönlichkeit in neuen „Normalitäten“ geformt werden.
Der einzige erfolgreiche Weg, etwaige Lücken zu schließen, bleibt daher: Arbeitskräfte aus dem Ausland anzuwerben oder sie hier auszubilden. An dieser Stelle ist jedoch eine Differenzierung notwendig: Der Grundgedanke, einen Fachkräftemangel über das Asylsystem ausgleichen zu können, ist romantisch, war aber nie realistisch und hat sich – nach nunmehr einem Jahrzehnt Erfahrung – in der Summe auch nicht bewährt.
Das ändert jedoch nichts daran, dass Arbeitsmigration ein absoluter Erfolgsfaktor war, ist und bleiben muss. Nur sind es zwei getrennte Themenfelder. Diese sollte man für einen einseitigen Spurwechsel öffnen, aber nicht zusammenführen.
2. Innovative Wege zum Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit finden
Die Wirtschaft lebt von Innovationen. Das gilt insbesondere für ein Land wie Deutschland, das nur begrenzt mit Rohstoffen gesegnet ist. Doch sind Innovationen immer nur Sache der freien Wirtschaft?
Dies ist eine ganz grundlegende Frage. Müsste nicht vielleicht auch der staatliche Werkzeugkasten auf den Prüfstand? Zweifellos kann man an dieser Stelle einwenden, dass ein Staat funktionieren muss – aber tut er das auch?
Wie wäre es mit folgendem Gedanken: Statt klassischer Verteilungs- oder Subventionspolitik ohne direkte strategische Kontrolle könnte der Staat zusätzlich zur Beseitigung infrastruktureller Mängel gezielt Beteiligungen an relevanten Unternehmen in Schlüsselindustrien erwerben. Das würde mehrere Vorteile bieten:
- Schutz vor Technologieabfluss: Viele innovative Unternehmen werden von ausländischen Investoren übernommen, wodurch Know-how verloren geht. Auch Abwanderungen wären schwieriger.
- Langfristige Rendite: Statt kurzfristiger Ausgaben könnte der Staat durch Beteiligungen an erfolgreichen Unternehmen langfristige Gewinne erzielen. So lassen sich möglicherweise Lücken bei Rente oder Pflege elegant schließen.
- Geopolitische Unabhängigkeit: Wichtige Industrien wie Halbleiterproduktion, erneuerbare Energien oder Pharmaforschung könnten strategisch gestärkt werden.
Natürlich birgt dieses Modell auch Risiken – wie jede wirtschaftspolitische Maßnahme. Doch Beispiele wie Airbus zeigen, dass staatlich unterstützte Unternehmensbeteiligungen funktionieren können, wenn sie professionell gemanagt werden. Dass der Staat dagegen zum Unternehmer wird, wäre wohl kein kluger Vorschlag. Dies ist auch nicht gemeint. Ein überwiegend stiller Partner soll er sein – nicht mehr.
Alternativ könnte ein „Volksfonds“ geschaffen werden, der Aktien strategisch relevanter Unternehmen erwirbt und verwaltet. Andere Länder, wie etwa Norwegen mit seinem Pensionsfonds oder Singapur mit Temasek Holdings, machen dies bereits seit vielen Jahren – mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung, aber großem Erfolg.
3. Infrastruktur und Rahmenbedingungen
Ein zentraler Faktor bleibt die inländische Infrastruktur – aber auch die internationalen Rahmenbedingungen. Im Inland, und hier wurde tatsächlich ein erster Schritt gemacht, geht es um Erneuerung: Transportwege, Bürokratieabbau, Reformen bei den Sozialsystemen, Energiekosten, Steuern – all das sind Stellschrauben, die sehr schnell bedient werden können und sollten.
Dabei muss auch hier der Blick in die Zukunft gerichtet sein. Nehmen wir das Beispiel Strom: Die Planung neuer Erzeugungskapazitäten darf sich nicht am Verbrauch von 2025 orientieren, sondern an einer Welt, in der Künstliche Intelligenz den Alltag prägt und das Elektromobil vor jeder Tür steht. Hier kann die Bundesregierung kurzfristig handeln, muss aber langfristig denken.
Gleichzeitig – und hier wird es komplexer – verschieben sich die globalen Machtverhältnisse. Diese Welt braucht geschickte Diplomatie, Verlässlichkeit und vor allem Freihandelszonen für hochwertige deutsche Produkte. Wer Protektionismus in Schlüsselindustrien betreibt, muss sich fragen lassen, ob er der eigenen Innovationskraft noch traut. Tun wir das nicht mehr, haben wir den Wettlauf längst verloren.
Welt der Herausforderungen
Dies sind nur drei der vielen drängenden Punkte, die an dieser Stelle beleuchtet wurden. Ohne Frage ließe sich die Gewichtung auch anders setzen – denn die Lösung muss, wie bereits betont, ganzheitlich gedacht sein. Sie muss den vielen Scherben einer fragmentierten Wirklichkeit gerecht werden, in der unterschiedliche Realitäten gleichberechtigt nebeneinander existieren.
Daher mag es sein, dass im Moment ein wenig Licht am Horizont sichtbar ist. Doch damit die Sonne auch langfristig wieder über der deutschen Wirtschaft scheint, braucht es grundlegende strukturelle Reformen. Es bedarf echter Innovationen – nicht nur in der Wirtschaft selbst, sondern auch bei ihren politischen, gesellschaftlichen und institutionellen Rahmenbedingungen.
Dieser Beitrag stammt aus dem EXPERTS Circle – einem Netzwerk ausgewählter Fachleute mit fundiertem Wissen und langjähriger Erfahrung. Die Inhalte basieren auf individuellen Einschätzungen und orientieren sich am aktuellen Stand von Wissenschaft und Praxis.