„Ich habe Freiheit hinzugewonnen“: Wie ein Hesse drei Jahre Grundeinkommen erlebte
Sergej Justus aus dem Kreis Gießen berichtet über sein Leben mit dem bedingungslosen Grundeinkommen. 1200 Euro erhält er im Monat obendrauf.
Linden – Der Lindener Sergej Justus hat drei Jahre lang ein bedingungsloses Grundeinkommen erhalten: 1200 Euro jeden Monat, einfach so. »Ich habe Freiheit hinzugewonnen«, berichtet er. Das Experiment ist nun ausgelaufen, in diesem Monat muss er erstmals wieder auf das Geld verzichten. Und für den 42 Jahre alten Justus stellt sich die Frage: Was bleibt?
Sergej Justus tritt auf die Terrasse, lässt sich auf einer Treppenstufe nieder, nippt an einer Tasse Kaffee und blickt ins Paradies. Nur das Summen der Bienen in seinem Garten vor ihm ist zu hören, ansonsten herrscht Stille. Jetzt, in diesem Augenblick, am frühen Nachmittag, beginnt Justus’ »zweiter Tag«, wie er sagt. Zu verdanken hat der 42 Jahre alte Lindener dies einem Experiment, einer Art Lottogewinn, auch wenn er das Wort ablehnt.
Justus hat drei Jahre lang ein bedingungsloses Grundeinkommen erhalten. 1200 Euro jeden Monat geschenkt, einfach so, ohne dafür etwas tun zu müssen. Als Teilnehmer des »Pilotprojekts Grundeinkommen«, eines großen wissenschaftlich begleiteten Experiments zu dem Thema.
Drei Jahre bedingungsloses Grundeinkommen: 1200 Euro im Monat geschenkt
1200 Euro sind für Justus, bei dem ansonsten monatlich 1900 Euro durch seine Arbeit als Sachbearbeiter für Retouren bei einem Online-Versandhändler und durch die Vermietung einer Wohnung auf dem Konto landen, durchaus ein Batzen. Vergangenen Monat ist das Experiment nun ausgelaufen. Und für Justus stellt sich 43 200 Euro später die Frage: Was bleibt?
»Es war wie ein zweites Leben, das ich hinzubekommen habe«, sagt Justus zu Beginn des Gesprächs. Der Lindener ist ein höflicher, ruhiger Mann, er spricht mit tiefer Stimme. Als er im Juni 2021 erfährt, dass er bei dem Experiment aufgenommen worden ist, sucht er im selben Monat seine Chefin in der Firma auf. »Ich möchte meine Arbeitszeit reduzieren«, sagt er ihr. »Von täglich acht auf sechs Stunden.« Die Chefin nickt, fragt kurz nach: »Ab wann?«
Die Idee, weniger Stunden zu arbeiten, habe er schon seit Jahren mit sich herumgetragen. »Ich bin von Natur aus etwas träge, brauche manchmal einen kleinen Tritt in den Hintern.« Das bedingungslose Grundeinkommen habe ihn zu dem Schritt ermutigt.
„Es macht einen nicht glücklich, wenn man nichts zu tun hat“
Immer wieder gibt Justus Sätze von sich, die Hinweise darauf geben, dass es mit dem Grundeinkommen einen getroffen hat, für den Konsum eine untergeordnete Rolle spielt. Er habe nie den Eindruck gehabt, Geld wie in einer Lotterie gewonnen zu haben, erklärt er. »Es war eher: ›Toll, etwas Neues. Darauf lasse ich mich ein.‹« Sinn des Experiments sei nicht, Geld zu haben, sondern Antworten auf die Frage zu erhalten, wie ein Grundeinkommen die Gesellschaft verändern könnte.
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Klar, räumt er ein, in den ersten Wochen habe er sich auch etwas teurere Sachen geleistet, einen neuen Backofen zum Beispiel. »Die hätte ich mir aber sowieso gegönnt, ich habe sie nur früher gekauft.«
Der Entschluss, die Arbeitszeit zu reduzieren, erwies sich als seine tiefgreifendste Entscheidung in den drei Jahren. Plötzlich saß Justus nach dem Feierabend um 13 Uhr zu Hause - und gewann den Eindruck, den Tag noch vor sich zu haben. »Ein zweiter Tag«, wiederholt er. Am Anfang habe er sich nach der Arbeit etwas zurückgelehnt. »Aber es macht einen nicht glücklich, wenn man nichts zu tun hat.«
So begann er mit einer Ausbildung zum Yoga-Lehrer. 840 Unterrichtseinheiten sind dabei zu bewältigen. Er gibt bereits einzelnen Interessierten Kurse. »Gleich kommt jemand vorbei«, sagt er. Mit der Ausbildung hätte er ohne das Grundeinkommen »wahrscheinlich nicht angefangen«, sagt Justus. Und er habe mehr Zeit gefunden, Freunden und Familie zu helfen, zum Arzt zu fahren und bei Umzügen mit anzupacken. Der Lindener hat das Geld außerdem in seinen Garten und die Bienenzucht investiert, hat auch etwas angespart. »Ich hatte vorher keine Möglichkeit, etwas zurückzulegen.«
„Da ist schon viel Druck weggefallen“: Hesse erhält seit drei Jahren das bedingungslose Grundeinkommen
Er sei »noch entspannter geworden«, blickt Justus auf die vergangenen drei Jahre. »Da ist schon viel Druck weggefallen«.
Der Lindener erzählt, dass er sich für die Teilnahme eigentlich nur beworben habe, um Einblicke in das Experiment zum bedingungslosen Grundeinkommen zu gewinnen, weil er sich dafür schon lange interessiere. Dann kommt er ins Philosophieren. Das Grundeinkommen könne dazu beitragen, »dass die Menschen auf einem würdigen Level ohne Angst existieren«, sagt er. Er glaube nicht, dass die Arbeitskraft einer Gesellschaft deutlich sinken würde. »Arbeiten ist für die meisten Menschen mehr, als nur Geld zu bekommen. Es bedeutet auch soziales Leben und Kontakte.« Ein bedingungsloses Grundeinkommen wäre familienfreundlich. »Auch die Hausfrau, die einen Großteil der Arbeit in der Familie leistet, würde es ja bekommen.«
Ergebnisse im Januar
Sergej Justus hat das bedingungslose Grundeinkommen in einem Experiment des Vereins »Mein Grundeinkommen« erhalten. Drei Jahre lang bekamen 122 Menschen 1200 Euro pro Monat, eine Kontrollgruppe erhielt kein Geld. Voraussetzung war ein Gehalt zwischen 1200 und 2600 Euro und ein Alter zwischen 21 und 40 Jahren zu Studienbeginn, die Teilnehmer mussten alleinstehend sein. Ergebnisse der Studie sollen im Januar veröffentlicht werden.
Und so ist noch die Frage zu klären, was für ihn nach dem Experiment nun bleibt. Auch ohne die weggefallenen 1200 Euro werde er weiterhin sechs Stunden am Tag arbeiten, sagt Justus. »Vorerst«, fügt er hinzu.
Eigentlich habe sich gar nicht so viel verändert, sagt er einmal während des Gesprächs. Um sich gleich darauf selbst zu widersprechen. Er habe an Freiheit hinzugewonnen, erklärt er. Und erzählt davon, über eine Existenzgründung nachzudenken. »Wenn ich mit der Yoga-Lehrer-Ausbildung fertig bin, muss ich schauen, ob ich mir einen Raum miete«, sagt er. »Ich wollte nie selbstständig werden, aber als persönliche Entwicklung wäre es der nächste Schritt.« Ohne das bedingungslose Grundeinkommen in den vergangenen drei Jahren, ergänzt Justus, wäre diese Option »nicht möglich gewesen«.