IWF-Ökonomen analysieren - Nicht Energiepreise oder Deindustrialisierung: Woran unsere Wirtschaft wirklich krankt

Warum nur wächst Deutschlands Konjunktur in diesem Jahr voraussichtlich nur 0,5 Prozentpunkte, während die USA-Konjunktur viermal stärker zulegt, und die übrigen Top-Industrieländer rund dreimal so viel?

Wer diese Frage stellt, hört schnell eine Vielzahl an Antworten. Ganz weit vorne dabei: In Deutschland ist alles teuer, vor allem aber die Energie. Billiges russisches Gas hätte Deutschland erst als Export-Meister etabliert. Und das Ende kostengünstiger Energie sei nun auch das Ende der Deutschland AG.

Nur: Das stimmt so gar nicht. Ökonomen des Internationalen Währungsfonds (IWF) haben sich gefragt, ob diese Einordnung korrekt ist. Ihre Analyse ergab, dass diese Narrativ einer genaueren Überprüfung nicht standhält. Die schlechte Nachricht dabei: Es sind tieferliegende, strukturelle Probleme, die Deutschlands Konjunktur ausbremsen.

Es gibt den Export-Meister Deutschland noch

„Der Anstieg der Gaspreise erwies sich als temporär. Die Großhandels-Gaspreise liegen, nachdem sie 2022 hochgeschossen sind, wieder auf dem Niveau von 2018“, schreiben die Analysten, und fügen an, dass auch andere, oft genannte Ursachen für das schwache Wachstum überzogen dargestellt worden sind.

So sei beispielsweise der Expertüberschuss auf 4,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gestiegen, „niedriger als die exzessiven Überschüsse der Jahre vor der Pandemie, aber über dem Schnitt der vergangenen zwei Jahrzehnte“, so die Einordnung der Volkswirte. Es gibt den Export-Meister Deutschland also noch.

Deutschland leidet weit weniger an Deindustrialisierung als gedacht

Die Furcht vor der Deindustrialisierung wäre ebenso überzogen, urteilen die Volkswirte. „Energieintensive Industrien, wie die Chemie-, Metalle- und Papierindustrie, sind geschrumpft, machen aber nur vier Prozent der Wirtschaft aus. Im Gegensatz dazu wuchs die Automobilherstellung im vergangenen Jahr um elf Prozent.“

Die Industrie mache die „grüne Wende“ auch mit. 2023 stiegen die Exporte an Elektroautos um 60 Prozent, so die IWF-Analyse. Volkswagen und BMW allein vereinten ein Zehntel aller Elektroauto-Verkäufe weltweit.

Was noch hinzukommt: Das verarbeitende Gewerbe konzentriert sich weiter auf höherwertige Produkte. Unter dem Strich bleibt also die Wertschöpfung gleich, obwohl die Industrieproduktion sinkt. Mit anderen Worten: „Die Industrieproduktion ist ein weniger brauchbarer Indikator für die Konjunktur“.

Keinem anderen Land gehen die Arbeitskräfte so schnell aus

Warum aber lahmt unsere Wirtschaft? Eine Mischung aus temporären und strukturellen Faktoren, sagen die Ökonomen. Die hohe Inflation habe den Konsum gedämpft, die höheren Leitzinsen wiederum die Bauwirtschaft und andere zinssensitive Branchen. Generell habe die Erholung der Weltwirtschaft nach der Pandemie eher dem Dienstleistungssektor als der Industrie geholfen - eine für Deutschland ungünstige Entwicklung.

Diese Faktoren verlieren jedoch zunehmend an Bedeutung. Die schlechte Nachricht: „Strukturelle Gegenwinde wie das magere Produktivitätswachstum dürften anhalten, andere wie die Alterung der Bevölkerung werden sich rapide beschleunigen“, urteilen die Ökonomen. Doch die Ökonomen haben Lösungen parat.

„Nun, da die Migrationswelle endet und die Boomer-Generation in den Ruhestand geht, wird Deutschlands Arbeitsbevölkerung schneller schrumpfen als in allen anderen G7-Ländern.“ Weniger Personen werden für mehr Rentner bezahlen müssen, die Rentenbeiträge werden steigen, während die Auszahlungen sinken. Zudem werde die ältere Bevölkerung Gesundheitsdienstleistungen noch stärker nachfragen, was Arbeitskräfte aus anderen Branchen abzieht.

Um der schrumpfenden Arbeitsbevölkerung entgegenzuwirken, plädieren die IWF-Volkswirte für mehr Migration. Ein alternativer Ansatz wäre, mehr Frauen in Arbeit zu bringen: „Unter Frauen gibt es 2,3 Millionen weniger Beschäftigte als unter Männern, und Frauen arbeiten mit einer fünf Mal höheren Wahrscheinlichkeit nur Teilzeit“, erklären die Volkswirte. Eine verlässlichere Kinderbetreuung und niedrigere Steuern für Zweitverdiener könnten hier Anreize schaffen.

Die Kommunen planen Geld für Investments ein - geben es aber dann nicht aus

Ein weitere Weg wäre, die Produktivität zu erhöhen. Hier fuhr Deutschland zu lange auf Verschleiß: „Seit den 1990ern sind die öffentlichen Investitionen in Deutschland gesunken, und haben es gerade so geschafft, den Wertverlust auszugleichen.“ Deutschland liege fast auf den letzten Plätzen unter den Industrieländern, was öffentliche Investitionen angeht.

Oftmals werde budgetiertes Geld noch nicht einmal ausgegeben, weil in den Kommunen die entsprechenden Mitarbeiter fehlen, konstatieren die Experten. Hier könnte es etwa helfen, die Planungskapazitäten durch Beratungen wie der Partnerschaft Deutschland zu vergrößern.

Für höhere öffentliche Investitionen könnte Deutschland auch die Schuldenbremse lockern – eine Vorgehensweise, die auch unter heimischen Ökonomen und der Politik mittlerweile seit Monaten debattiert wird. Doch die Chance wäre da, sagen die IWF-Volkswirte: „Die Schuldenbremse könnte um rund ein Prozent des BIPs gelockert werden, und Deutschlands Schulden würden dennoch, als Anteil am BIP, sinken.“

„Es ist jetzt an der Zeit, diese Hebel zu nutzen“

Zuletzt nennen die Experten noch den Abbau der Bürokratie, um der Wirtschaft wieder mehr Schwung zu verleihen. „Es dauert beispielsweise fünf bis sechs Jahre, um die Erlaubnis für ein Windkraftwerk zu bekommen. Und es benötigt 120 Tage für eine Gewerbelizenz, mehr als doppelt so lange wie im OECD-Durchschnitt.“

Mehr digitale Behördenangebote könnten derartige Prozesse ebenfalls beschleunigen. Dabei fange das schon bei den kleinsten Unterschieden an: „Nur 43 Prozent der Online-Behördenprozesse füllen Formulare automatisch mit persönlichen Daten aus, während es im EU-Schnitt 68 Prozent sind.“

Deutschland stehe vor wichtigen ökonomischen Herausforderungen, resümieren die Experten. Aber: Das Land besitze auch die richtigen politischen Hebel, um diese zu überstehen und sich eine leuchtende wirtschaftliche Zukunft zu sichern. „Es ist jetzt an der Zeit, diese Hebel zu nutzen.“