Wo ist Sergei Lawrow? Gerüchte um das Schicksal von Putins Außenpolitik-Strippenzieher

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Sergei Lawrow ist verschwunden. (Archivbild) © Alexander Nemenov/POOL AFP/dpa

Der gerissene Diplomat wurde seit einer Woche nicht mehr öffentlich gesehen, und Beobachter vermuten, er könnte mit dem russischen Präsidenten aneinandergeraten sein.

Sergei Lawrow ist verschwunden. In der vergangenen Woche hat Russlands erfahrener Außenminister ein zentrales Treffen mit Wladimir Putin ausgelassen, wurde vom G20-Gipfel ausgeschlossen und ist praktisch vollständig aus dem Nachrichtenstrom seines eigenen Ministeriums verschwunden.

Am Samstag tauchte er kurz für ein Interview mit Staatsmedien auf – illustriert allerdings mit einem ein Jahr alten Foto –, doch tatsächlich wurde er bisher nicht gesehen.

Spekulationen um Lawrows Verbleib

Ist er krank? Wurde er entlassen? Oder vielleicht aus dem Fenster gefallen? Und falls Putins wichtigster Gesandter tatsächlich am Ende seiner Laufbahn angelangt ist, könnte sich auch Russlands aggressive Außenpolitik ändern?

Am Mittwoch vergangener Woche war Lawrow das einzige ständige Mitglied des nationalen Sicherheitsrates, das einer Sitzung fernblieb, bei der Putin das Militär anwies, sich auf eine mögliche Wiederaufnahme von Atomwaffentests vorzubereiten.

Rätselhafte Auftritte und Rückzug

Am Tag davor hatte der Kreml bekanntgegeben, dass Dmitri Oreschkin, ein stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung, die russische Delegation beim G20-Gipfel in Johannesburg später im Monat anführen werde. Seit dem vollständigen Einmarsch in die Ukraine, durch den Putins eigene Teilnahme am Gipfel in Rio de Janeiro 2024, Neu-Delhi 2023 und Bali 2022 verhindert wurde, hat Lawrow Russland stets bei jedem G20-Gipfel der Staats- und Regierungschefs vertreten.

Seine jüngsten offiziellen Stellungnahmen vor dem Wochenendinterview wirken merkwürdig unbedeutend: eine kurze Ansprache bei der Abschlussveranstaltung einer Freiwilligengruppe, die an den Feierlichkeiten zum 80. Jahrestag des Zweiten Weltkriegs beteiligt war; eine offizielle Beileidsbekundung zum Tod eines bekannten Fernsehmoderators; eine weitere zum 60. Geburtstag eines ehemaligen Gesundheitsministers.

Mutmaßungen und verschiedene Erklärungen

Was ist also mit ihm passiert? Andrei Kolesnikov, der langjährige und bestens vernetzte Kreml-Korrespondent von Kommersant, hatte erfahren, dass Lawrow dem Sicherheitsrat „im Einvernehmen“ fernblieb – eine weitere Erklärung gab es offenbar nicht.

Doch die russische Ausgabe der Moscow Times schlussfolgerte am Donnerstag, er sei „vermutlich in Ungnade gefallen“ bei Putin, nachdem das geplante Gipfeltreffen zwischen dem russischen Präsidenten und Donald Trump in Budapest abgesagt worden war.

Das Vorhaben scheiterte Berichten zufolge, nachdem Marco Rubio, der US-Außenminister, nach einem gereizten Telefonat mit Lawrow am 21. Oktober zu dem Schluss kam, dass Russland bei Putins zentralen Forderungen keinerlei Entgegenkommen zeigen werde. Der Kreml wies Gerüchte über einen Bruch zwischen Lawrow und seinem Chef entschieden zurück. „Das ist vollkommen unwahr“, sagte Dmitri Peskow, Putins Sprecher, am Freitag.

Krankheit oder politische Krise?

Natürlich könnte er einfach krank sein. Sein Reiseprogramm sei weiterhin strapaziös, und „sein Ermüdungsgrad ist sehr offensichtlich“, bemerkt Alexander Gabuev vom Carnegie Russia Eurasia Center. Seine Vorliebe für Johnnie Walker Black Label – ein beliebter Drink, als er UN-Botschafter war – ist geblieben, ebenso wie seine Rauchgewohnheiten.

Beim G20-Gipfel in Bali 2022 wurde ein zur Entkräftung von Gerüchten über gesundheitliche Probleme veröffentlichtes Foto auf ein Krankenhaus zurückverfolgt, nachdem er während mehrerer Sitzungen abwesend war. Für das anspruchsvolle Amt ist sein Alter beachtlich. In diesem Jahr wird er 75; bei der nächsten von Putin geplanten Scheinewahl und möglichen Kabinettsumbildung im Jahr 2030 wäre er 80. Vielleicht winkt der Ruhestand.

Lawrows Außenpolitik unter Druck

Im Gebäude Smolenskaja-Sennaja Platz 32–34, der an eine „Mordor“-Festung erinnernden Zentrale des Außenministeriums, deren Kapitän Lawrow seit 21 Jahren ist, herrscht Schweigen über das Schicksal des Ministers. Doch Russlands Diplomaten wissen, dass ihr langjähriger Chef an das Ende seiner Ära gelangt – wegen seines Alters, aber auch, weil er zum Relikt geworden ist.

Wortgewandt, charmant, wenn es darauf ankommt, stets bestens informiert und den Überblick über alle Details behaltend – Lawrow repräsentiert das Beste, was die sowjetische Diplomatie hervorbringen konnte. Doch er beherrscht auch die dunkle Seite dieses Erbes: Einschüchterung, Trolling, durchschaubare Lügen und Härte – je weniger seine eigentlichen Fähigkeiten gefragt sind, desto stärker treten diese Züge hervor.

Während seiner zwanzigjährigen Amtszeit hat Lawrow miterlebt, wie Putin die tatsächliche außenpolitische Entscheidungsfindung im Kreml konzentrierte und immer stärker auf Soldaten und Geheimdienstler – nicht mehr Diplomaten – setzte, um seine Pläne durchzusetzen.

Veränderte Weltordnung und schwindender Einfluss

Seit der Annexion der Krim 2014 und insbesondere seit dem massiven Einmarsch in die Ukraine 2022 sind jene Felder, in denen Lawrows Stärken lagen – institutionalisierte, formelle Beziehungen zum Westen – praktisch bedeutungslos geworden. Der UN-Sicherheitsrat, die OSZE, iranische Atomverhandlungen, Rüstungskontrolle – all diese Bereiche, die früher unter Leitung des Außenministeriums standen, sind irrelevant geworden, entsprechende Kompetenzen überflüssig.

Lawrow, der arrogante, kettenrauchende Spross eines Systems, das auf solche Strukturen ausgelegt war, bleibt heute die mühselige Aufgabe, im Nachhinein alles zu rechtfertigen, was sein Vorgesetzter vorgibt. Wie ein Mammut, das nach der Eiszeit noch in der Tundra herumstampft, ist er eine Figur, die ihrer Zeit beraubt ist.

Das bedeutet nicht, dass er freiwillig abtreten will, meint Gabuev. Im Gegenteil – in den letzten Jahren klammerte er sich mit wachsendem Ehrgeiz an die Macht. Und Mammuts hielten sich auf Russlands abgelegenen arktischen Inseln bekanntlich Jahrhunderte.

Potenzielle Nachfolger und Loyalitäten

Im System gäbe es potenzielle Nachfolger: darunter Sergei Rjabkow, sein 65-jähriger Stellvertreter, und Igor Morgulow, derzeit russischer Botschafter in China – beide aus demselben Holz geschnitzt.

Es gibt auch externe Kandidaten. Gerüchte halten sich seit Langem, dass Dmitri Peskow, Putins stets gelassener Sprecher, das Amt übernehmen könnte. Währenddessen sieht sich Kirill Dmitriev, der Finanzier mit engen Kontakten zu Steve Witkoff, Amerikas Sondergesandtem für den Nahen Osten, selbst als wandelnden Emissär, Amerika-Versteher und Kenner der Golfmonarchien (er gilt jedoch als bürokratisches Leichtgewicht – Lawrow hält ihn eindeutig für einen Amateur).

Doch bevor einer dieser ehrgeizigen Männer in Stellung geht, lohnt ein Blick darauf, wie Lawrow sich so lange an der Spitze hielt. Der Schlüssel war, sich kompromisslos an seinen Förderer zu binden – Lawrow war Putin gegenüber stets loyal – und so kompromisslos wie möglich als Hardliner aufzutreten.

Wahrscheinlich wusste Lawrow genau, was er in jenem Telefonat mit Marco Rubio tat. Möglicherweise rechnete er damit, dass es besser sei, dem US-Außenminister unnachgiebige, kaum erfüllbare Forderungen zu stellen, als kreativ zu werden und den Chef einem Gipfeltreffen auszusetzen, bei dem dieser nicht bekommt, was er will. Und wenn es zusätzlich hilft, die Amateurversuche eines Rivalen schlecht aussehen zu lassen, umso besser.

Im Endeffekt spielte Lawrow sein raffiniertestes diplomatisches Spiel nicht im Ausland, sondern schlicht darin, im System Putins so lange zu überleben. (Dieser Artikel entstand in Kooperation mit telegraph.co.uk)