37 Tage lang kein neuer Rollstuhl - Krankenkasse und Sanitätshaus lassen schwerkranke Regensburgerin hängen

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Ohne ihren Rollstuhl kann Isolde Kern die Wohnung nicht verlassen. Ihr „Hausarrest“ dauerte 37 Tage. © Stefan Aigner

Trotz 48-Stunden-Mobilitätsgarantie für ihren Rollstuhl wurde eine MS-Patientin (72) einen Monat lang vertröstet, abgewiegelt und gedemütigt.

Regensburg - Isolde Kern hat ihr Leben lang gearbeitet. 22 Jahre als Krankenschwester. Sie hat sich Menschen gekümmert, die auf Hilfe und Unterstützung angewiesen waren. Nun braucht die 72-Jährige selbst Hilfe. Sie leidet an Multipler Sklerose, kann seit ihre Wohnung seit einigen Jahren nur noch mit einem elektrischen Rollstuhl verlassen – und der ging am 9. Oktober kaputt.

37 Tage in der Wohnung isoliert: „Ich habe mich noch nie so gedemütigt gefühlt.“

Doch trotz einer 48-Stunden-Mobilitätsgarantie, die ihre Krankenkasse, die DAK, auf ihrer Webseite verspricht, musste sie 37 Tage auf Ersatz für ihren defekten Rolli warten. So lange konnte sie ihre Wohnung nicht verlassen – mit dem Rollator konnte sie gerade mal bis zum Gartentor. Sie konnte ihre Termine bei der für MS-Patienten wichtigen Krankengymnastik nicht wahrnehmen und konnte in einer Zeit, in der das Thema Inklusion in aller Munde ist, nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen.

Und auch wenn der Rollstuhl jetzt zu funktionieren scheint, sagt uns Frau Kern, deren Namen wir geändert haben: „Die Einschränkungen während Corona waren im Vergleich dazu gar nichts. Ich habe mich in meinem Leben noch nie so hilflos und gedemütigt gefühlt.“

Krankenkasse macht viele Versprechungen - und hält keines ein

Die Ersatzkasse DAK Gesundheit gibt Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, eine Reihe von beruhigenden Versprechen. Es gebe individuelle und bedarfsabhängige Beratung. Von regelmäßiger Wartung und Instandsetzung durch geschultes Fachpersonal ist die Rede. Außerdem gebe es einen „technischen Notdienst mit unverzüglicher Reparatur oder Austausch gegen einen funktionsähnlichen und -fähigen Rollstuhl innerhalb von zwei Arbeitstagen“.

Nichts davon wurde eingehalten – weder von der DAK noch von deren Vertragspartner, dem Regensburger Sanitätshaus Reiss, das mit über 50 Jahren Erfahrung wirbt und mit „engagierter Unterstützung“ beim Wiedererlangen von Selbständigkeit trotz Krankheit. Nach dem Defekt ihres Rollstuhls am 9. Oktober und in den Wochen danach wurde sie in telefonischen Warteschleifen von der DAK, aber auch dem Sanitätshaus vertröstet, mit falschen Versprechungen abgespeist und gelegentlich wurde ihr einfach aufgelegt.

Versicherte im Räderwerk von Krankenkassen und Sanitätshäusern: Kein Einzelfall

Folgt man einem 76 Seiten starken Sonderbericht des Bundesamts Soziale Sicherung über die Qualität der Hilfsmittelversorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung, dann geht es sehr vielen Menschen so wie Ilona Kern. Zwar seien Hilfsmittel wie der Rollstuhl für die Regensburgerin „Grundvoraussetzung“ für kranke oder behinderte Menschen, um am Leben in der Gesellschaft teilnehmen zu können. Auch sei eine qualitätsvolle Versorgung mit diesen Hilfsmitteln von „wesentlicher Bedeutung“.

Allerdings stellen die Verfasser des Sonderberichts „zahlreiche Beschwerden“ fest „über Qualitätsdefizite in der Hilfsmittelversorgung“ und „bei der Beratung der Versicherten sowohl auf Seiten der Krankenkassen, als auch der Leistungserbringer (also zum Beispiel dem Sanitätshaus Reiss, Anm. d.Red.)“. Geklagt wird auch über „rechtswidrige Verhaltensweisen von Krankenkassen im Vertragsverhandlungsgeschäft mit den Leistungserbringern“, über mangelnde Transparenz gegenüber den und fehlende Unterstützung der Versicherten.

Schlechte Qualität bei Versorgung mit Hilfsmitteln: Die Misere begann schon 2007

Neben diesem Umstand an sich ist bemerkenswert, dass die Ausgaben der Krankenkassen für Hilfsmittel – über 28 Millionen Fälle, vom Hörgerät, über die Prothese bis hin zum Rollstuhl – mit 9,3 Milliarden Euro im Jahr 2020 nicht einmal vier Prozent der gesamten Leistungsausgaben, 249 Milliarden Euro, ausmachen.

Folgt man dem Sonderbericht, dann war Auslöser der Misere das 2007 unter CSU-Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer verabschiedete „GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz“. Durch diese umfassende Neuregelung sollten, so die damalige politische Marschrichtung, die steigenden Kosten in der gesetzlichen Krankenversicherung gestoppt und die Beiträge stabil gehalten werden. „Erklärtes Ziel“ war es dabei insbesondere auch, „den Preiswettbewerb in der Hilfsmittelversorgung zu stärken“, schreibt das Bundesamt für Soziale Sicherung.

Neues Gesetz sorgte für Preiswettbewerb und schlechtere Qualität

Unter anderem wurde dabei aber auch die Freiheit der Versicherten bei der Wahl ihres Sanitätshauses eingeschränkt. Nur wenn das betreffende Unternehmen einen Vertrag mit der jeweiligen Krankenkasse hat, darf man dessen Service in Anspruch nehmen.

17 Jahre und diverse Gesetzesanpassungen später kommt das Bundesamt nun zu dem vorläufigen und vielleicht gar nicht so überraschendem Schluss, dass dieses Vorgehen nicht zu dem „erhofften Qualitätswettbewerb“ geführt habe. Im Gegenteil. Im von den gesetzlichen Krankenkassen auch „mit rechtswidrigen Verhaltensweisen“ befeuerten Preiswettbewerb blieben die Qualität im Umgang mit Versicherten und deren flächendeckende Versorgung mit Hilfsmitteln auf der Strecke.

Betroffen: Kinder und Seniorinnen

Zahlreiche Beschwerden, die ohnehin nur eine Spitze des Eisbergs darstellen dürften, erreichten das Bundesamt insbesondere über das Aktionsbündnis für bedarfsgerechte Heil- und Hilfsmittelversorgung für chronisch kranke und behinderte Kinder. Eine entsprechende Petition wurde 2021 mit über 55.000 Unterschriften unterstützt.

Es ist nicht bekannt, wie viele ältere Menschen wie Ilona Kern, die sich eher selten zu Wort melden, von den Qualitätsmängeln bei der Hilfsmittelversorgung betroffen sind und im Spannungsfeld zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern zerrieben werden.

Viele Beschwerden über rechtswidriges Verhalten von Krankenkassen

Dass Unternehmen wie das Sanitätshaus Reiss unter Druck stehen, kann man daran ablesen, dass dem Bundesamt für Soziale Sicherung diverse Beschwerden der Unternehmen über das Gebaren der gesetzlichen Krankenkassen vorliegen. „Zahlreiche Leistungserbringer“ würden sich demzufolge darüber beklagen, dass die Kassen keine Vertragsverhandlungen zuließen, sondern nach dem Motto „Friss oder stirb“ auf bestehende Verträge verwiesen, denen man „beitreten“ könne. Ein rechtswidriges Verhalten.

Ebenso rechtswidrig ist die von Bundesamt monierte Praxis, derzufolge Krankenkassen Verträge so ausgestalten, dass sie auf bestimmte Unternehmen zugeschnitten sind und andere von vorneherein ausschließen. Eine Möglichkeit, die Preisgestaltung bei diesen Verträgen zu kontrollieren, hat das Bundesamt laut eigener Aussage nicht.

Schwerkranke Seniorin ging 37 Tage lang im Abwiegeln von Verantwortung unter

Immer mehr Unternehmen wie das Sanitätshaus Reiss, jährliche Bilanzsumme immerhin rund zwei Millionen Euro, schließen sich zusammen, um einerseits ihre Interessen gegenüber Politik und Öffentlichkeit zu vertreten, andererseits, um gemeinsam gegenüber den Krankenkassen auftreten zu können. Reiss hält beispielsweise Gesellschaftsanteile an der Hamburger rehaVital Gesundheitsservice GmbH, unter deren Dach sich über 70 Unternehmen versammelt haben, insbesondere um durch gemeinsame Produktbeschaffung günstigere Konditionen zu erhalten.

Ilona Kern ging 37 Tage lang unter in diesem Preiskampf, dem Abwiegeln von Zuständigkeiten und der vom Bundesamt monierten fehlenden Transparenz, wer nun eigentlich verantwortlich ist für die menschenunwürdige Behandlung, die ihr zuteil wurde.

Krankenversicherung DAK und Sanitätshaus: Schuldzuweisung statt Entschuldigung

Frau Kerns Rollstuhl wurde in den vier Jahren, in denen sie ihn besitzt, bislang ein einziges Mal gewartet. Auf ihre Initiative hin, weil eine Polizeibeamtin sie auf die maroden Reifen hingewiesen hatte.

In einer Stellungnahme gegenüber unserer Redaktion deutet die DAK dann auch noch an, dass laut Aussage des Sanitätshauses Reiss „wohl ein nicht pfleglicher Umgang mit dem Rollstuhl ursächlich für den Defekt“ gewesen sei. Ein Muster, das es, wie Zuschriften an unsere Redaktion nahelegen, häufiger zu geben scheint. Kasse und Leistungserbringer versuchen offenbar so, sich der Verantwortung zu entledigen und sie auf die Versicherte abzuschieben, ohne das eigentliche Problem zu lösen.

Kein Platz für eine menschliche Entscheidung?

Im Sonderbericht des Bundesamts wird dieses Verhalten recht deutlich beschrieben: „Es bleibt festzustellen, dass die Mehrzahl der Krankenkassen ihrer gesetzlichen Pflicht zur Prüfung der Qualität der Versorgung nicht in ausreichendem Maß nachkommen.“

Für eine menschliche Entscheidung, nämlich einer 72-jährigen MS-Patientin binnen der versprochenen 48 Stunden einen funktionierenden Rollstuhl vor die Tür zu stellen, damit sie die begrenzte Zeit, in der sie noch halbwegs etwas unternehmen kann, so gut wie möglich nutzen kann, war bei diesem Gerangel um Geld, Zuständigkeiten und Verantwortung 37 Tage lang kein Platz – weder bei der DAK noch beim Sanitätshaus Reiss. Es geht eben – auch dank der 2007 ins Werk gesetzten Wettbewerbsstärkung – vor allem um den Preis, nicht um die hilfsbedürftigen Versicherten.

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