"Möchte dienen, aber nicht kämpfen" - Rekrutierer enthüllt: Es gibt noch vier Gründe, warum Ukrainer in den Krieg ziehen

Nazar, 19, ausgebildeter Kfz-Mechaniker, repariert jetzt Panzer statt Autos. Der Unterschied sei nicht groß, sagt der junge Mann und zuckt mit den Schultern. „Die Teile sind einfach größer.“ Der Ukrainer steht an einem Wintertag in einem Hof vor der Militärbasis der 37. Marinebrigade im ukrainischen Hinterland.

Mit Tarnkapuze über dem Kopf und Handy in der Hand spricht er per Video mit dem Tagesspiegel. Im Hintergrund hört man metallisches Klirren. Nazar, gebürtig aus Odessa, trat vor wenigen Monaten der ukrainischen Armee bei – freiwillig.

Aus freien Stücken melden sich mittlerweile immer weniger Ukrainer zur Armee: Viele Männer verstecken sich vor Beamten der Mobilisierungsbüros, nur um nicht in den Krieg gegen Russland zu ziehen. Doch Nazar meldete sich proaktiv bei einem Rekrutierungszentrum des ukrainischen Verteidigungsministeriums.

"Ich möchte dienen, aber ich möchte nicht kämpfen" Nazar, 19, musste seine Eltern überreden, sich freiwillig zur Armee melden zu dürfen.

Zuvor musste er erst seine Eltern von der Idee überzeugen – obwohl sein Vater und seine Brüder selbst Militärs sind. Um sie und Nazar zu schützen, soll sein Familienname nicht genannt werden.

Das ukrainische Verteidigungsministerium gibt an, pro Monat rund 6500 Freiwillige zu rekrutieren. Die Zahl stammt aus dem vergangenen Herbst. Oleksij Beschevets, Rekrutierungsoffizier beim ukrainischen Verteidigungsministerium, nennt sie einen Durchschnittswert. 

Seit April 2024 hat die Ukraine im ganzen Land 46 Rekrutierungszentren eröffnet, Anlaufstellen für die, die sich trauen, und die, die sich dem Kriegsdienst schlicht nicht mehr entziehen können.

Rekruter und Mobilisierer sind wie „Good Cop“ und „Bad Cop“


Diese Zentren suchen so lange nach einer geeigneten Position im Militär, bis die Bewerber zufrieden sind. Das unterscheidet sie von den Mobilisierungsbehörden, die Männer zwischen 25 und 60 Jahren auch gegen ihren Willen einziehen. 

Wo man als Mobilisierter dienen muss, kann man sich nicht aussuchen. Viele Ukrainer, besonders Männer, kritisieren die Mobilisierung zunehmend.

Doch das freiwillige Recruiting profitiert geradezu davon: Wenn die Mobilisierung der „Bad Cop“ ist, ist das Recruiting der „Good Cop“ – eine Arbeitsagentur für angehende Drohnenkämpfer und Scharfschützen. Wobei Drohnenoperator beliebter ist als Scharfschütze. 

Oder wie Rekrutierungsoffizier Beschevets es ausdrückt: „Die Psychologie eines Zivilisten bevorzugt einen Posten weit weg von der Front, in einer friedlichen Umgebung in der Westukraine.“

"Es sind nicht mehr so viele Leute übrig" Oleksij Beschevets, Rekrutierungsoffizier beim ukrainischen Verteidigungsministerium

In dieser Hinsicht ist Nazar keine Ausnahme. Er wollte schon früher zur Armee, doch ihm war auch klar: „Ich möchte dienen, aber ich möchte nicht kämpfen.“ Kurz nachdem in Nazars Heimatstadt Odessa eines der Rekrutierungsbüros eröffnet hatte, stellte er sich dort vor: Nazar, 19, Mechaniker dritten Grades, seit sieben Monaten im Hafen von Odessa angestellt. 

Autos repariert er schon seit seiner Kindheit, besonders gerne werkelte er an alten Modellen wie Zhivelis herum. „Autos sind ein großer Teil meines Lebens“, sagt Nazar.

Nazar, der Autofreak, soll Panzer reparieren

Im Rekrutierungszentrum hat man einen Job gesucht für Nazar, den Autofreak. Gefunden haben die Rekruter eine Stelle als Mechaniker im Logistikbatallion der 37. Marinebrigade. Sie entsprach dem, was Nazar gesucht hat und dem, was er kann. Da stimmten auch seine Eltern zu.

Denn die Logistik sitzt nie an der Front, um sich vor gegnerischen Luftschlägen zu schützen. Das erklärt Leutnant Denys Bobkow, Presseoffizier der Brigade, in der Nazar dient. Damit Nazar keine sensiblen Informationen preisgibt, ist Bobkow beim Videointerview dabei – eine Bedingung der Brigade.

„Es sind nicht mehr so viele Leute übrig“

Bobkow trat selbst freiwillig der Armee bei, am 14. Februar 2023. „Am Valentinstag, ein Geschenk für meine Frau.“ Er grinst. Sie habe sich nicht über das Geschenk gefreut, sagt er. 

Bevor er zum Presseoffizier befördert wurde, diente Bobkow als Infanterist am Maschinengewehr, auf einem gepanzerten Oshkosh-Truck. Ein Modell, das Nazar mittlerweile gut kennt. Es landet gelegentlich bei ihm in der Werkstatt. Welche anderen militärischen Fahrzeuge er außerdem repariert, darf er nicht verraten.

Ältere melden sich und werden abgewiesen, es werden auch Frauen und Ausländer rekrutiert

Jetzt, wo Russland seine Angriffe wieder intensiviert, ist es „sehr schwer“, Soldaten zu rekrutieren. „Es sind nicht mehr so viele Leute übrig“, sagt Rekrutierungsoffizier Beschevets. 

Daher würden sich zuletzt immer mehr ältere Menschen melden, die nicht selten aber von den Brigaden abgewiesen werden, weil sie nicht fit genug seien.

Auch immer mehr Frauen, die rechtlich nicht zum Kriegs- und Wehrdienst verpflichtet sind, würden verstärkt rekrutiert, genauso wie Ausländer, sagt Beschevets. Doch aus welchen Ländern diese kämen, wolle er nicht verraten.

Was motiviert die Freiwilligen? Diese Frage stellt sich drängender, je länger der Krieg dauert. In den ersten Wochen der groß angelegten russischen Invasion standen Freiwillige Schlange, um eine Kalaschnikow in die Hand gedrückt zu bekommen.

Rekrutierungsoffizier nennt vier Gründe, wieso Ukrainer immer noch kämpfen wollen

Heute hingeben haben drei Jahre Zermürbungskrieg nicht nur die Bevölkerung, sondern auch Moral und Motivation ausgedünnt. 

Beschevets nennt vier Gründe, die Ukrainer im dritten Kriegsjahr noch zum Kämpfen bewegen: Angst, vor der Zukunft. Rache – für getötete Verwandte. Geld. Und Liebe – zur Familie und zum Vaterland.

Wissenschaftliche Forschung zur Kampfmotivation und -moral von Soldaten zeigt, dass die Aussicht auf einen Sieg die Kampfmoral stark beeinflusst – oft stärker als Verluste auf dem Schlachtfeld. Doch die persönliche Motivation von Soldaten ändert sich mit der Zeit. Studien mit kampferfahrenen Soldaten zeigen, dass ihre Motivation von der militärischen Führung, ihrem Rachewunsch und einem Pflichtgefühl gegenüber ihrem Land abhängt. 

Neue Form der Zwangsmobilisierung wird in Ukraine „Busifizierung“ genannt

Bezhevets’ Abteilung muss all diese Faktoren berücksichtigen: Sie versteht sich als Headhunting-Agentur und wirbt über Social Media und ihre eigenen Online-Plattformen um Personal. Ihre Marketingstrategie setzt auf Selbstbestimmung: Bestimme selbst, bevor jemand anderes für dich bestimmt.

Dieser „jemand“ sind die Mobilisierungsbehörden. In sozialen Netzwerken kursieren Videos von Männern, die von Mobilisierungsbeamten auf der Straße aufgegriffen und in Kleinbussen zur Musterung abtransportiert werden. Berichten zufolge kam es dabei in der Vergangenheit auch zu Schlägen und Gewalt durch die Beamten.

„Entweder verteidigt man sein Land, oder man lässt einen Genozid zu“

Diese Form der Zwangsmobilisierung wird in der Ukraine „Busifizierung“ genannt: eine Wortneuschöpfung, die im vergangenen Jahr in der Ukraine zum „Wort des Jahres“ gekürt wurde. Doch was ebenso zur Wahrheit dazugehört: Ohne die Mobilisierung würden Posten im Schützengraben wohl gar nicht mehr besetzt werden.

Trotz der Vorteile für Freiwillige bleiben viele skeptisch. Oleksiy Bezhevets erklärt: Die gewählte Position kann sich ändern. Auch eine Stelle weitab von der Front bietet keine Garantie, nicht an eine gefährlichere Position versetzt zu werden. Für Zivilisten sei das abschreckend.

Ob er Verständnis für die Angst vor dem Kriegsdienst hat? „Für mich ist die Entscheidung einfach: Entweder verteidigt man sein Land, oder man lässt einen Genozid zu. Aber das sehen viele nicht so klar wie ich.“

Von Maria Kotsev