Tarnung an der Front: Hightech-Anzug macht Ukraine-Soldaten auf dem Schlachtfeld unsichtbar

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Lebensversicherung für Kräfte beider Seiten: Ein junger Mann probiert an der Berufsschule für Industriedienst in Krasnojarsk, Russland, einen Leshiy-Tarnanzug an, der angefertigt wurde von Freiwilligen für russische Soldaten , die an der Militäroperation in der Ukraine beteiligt sind. © IMAGO / Ilya Naymushin

Die Ukraine will einen neuen Tarnanzug eingeführt haben – eine Lebensversicherung für die Kräfte. Aber nur für wenige. Den meisten ist er keine Hilfe.

Kiew – „Wir müssen ein Material entwickeln, das Infrarotstrahlung absorbiert und eine geringe Wärmeleitfähigkeit aufweist. Unser Ziel ist es, Militärpersonal und Ausrüstung so zuverlässig wie möglich vor dem Feind zu tarnen“, sagte Witali Polowenko. Den stellvertretenden Verteidigungsminister der Ukraine zitierte im Februar 2024 die Nichtregierungsorganisation (NGO) Ukrainischer Weltkongress. Jetzt hat die Ukraine gegen Wladimir Putins Invasionsarmee offenbar einen Durchbruch erzielt.

Die 56. selbstständige motorisierte Infanteriebrigade Mariupol der Ukraine habe einen Schritt in die Zukunft gemacht, indem sie Anti-Wärme-Anzüge eingeführt habe, die die Soldaten für feindliche Wärmebildkameras und Drohnen nahezu unsichtbar machten, schreibt aktuell das Magazin Defense Express. Die Tests dazu waren bereits Ende 2023 veröffentlicht worden. Mychajlo Fedorow hatte angekündigt, dass seine Soldaten künftig thermische Anzüge erhalten würden, um gegen Wärmebildsysteme weniger sichtbar zu werden, so der ukrainische Minister für digitale Transformation.

Ukraine-Krieg: „Selbst ein gut getarnter Soldat leuchtet durch ein Wärmebildgerät wie ein Weihnachtsbaum“

„Selbst ein gut getarnter Soldat leuchtet durch ein Wärmebildgerät wie ein Weihnachtsbaum“, schreibt das österreichische Outdoor-Magazin Spartanat. Deshalb gehörten Wärmebild-Sensoren zu den größten Gefahren für die Männer am Boden – allerdings genauso für gepanzerte Fahrzeuge: Auch ein in Stellung gegangenes Gefechtsfahrzeug wird künftig durch seine Wärmebildsignatur zu einem gefährdeten Objekt.

Das Ausrüstungsgewicht von Soldaten erfährt bis in das 21. Jahrhundert trotz des technischen Fortschritts eine stetige Zunahme. Die durchschnittliche Kampfausrüstung eines Soldaten wiegt 28,6 Kilogramm und im Rahmen eines notfallmäßigen Annäherungsmarsches kann das Gewicht bis zu 59,7 Kilogramm betragen. Dies entspricht einem durchschnittlichen Körpergewichtsanteil von circa 77 Prozent

Wärmebildgeräte sind demnach in der Lage, die von einem Körper ausgehende Infrarotsignatur als Wärmestrahlung sichtbar zu machen. Wie das Magazin schreibt, vermag ein Wärmebildsensor trotz vollkommener Dunkelheit oder anderen visuellen Hindernissen wie Rauch oder Nebel Temperaturunterschiede zu registrieren und diese in ein Thermalbild umzuwandeln. „Einfach gesagt: Das Bild des Wärmebildgeräts entsteht aus Temperaturunterschieden“, schreibt Spartanat. Insofern würden auch in einem Fahrzeug oder einem Bunker die Temperaturunterschiede abgebildet werden. Die Wärme-Abstrahlung eines Motors zu unterdrücken, stellt eine enorme Herausforderung dar.

Der Ukraine-Krieg würde seit langem schon „von Baumgrenze zu Baumgrenze geführt, und die Truppen nutzen die Baumkronen, um sich vor den über ihnen kreisenden Drohnen zu verstecken“, wie das Wall Street Journal schreibt. Damit würde jetzt endgültig Schluss sein. Anfang des Jahres allerdings hatte das russische Magazin Top War berichtet, Spezialisten des russischen Unternehmens HiderX entwickelten einen Tarnanzug, der die Silhouette buchstäblich „bricht“ und „verwischt“, und so eine geringe Erkennung durch Wärmebildgeräte ermögliche – einen Anti-Drohnen-Poncho, sozusagen. Tatsächlich haben die Russen einen ähnlichen Anzug in Benutzung; oder zumindest in der Entwicklung.

Innovations-Krieg: Russland enthüllt Pläne für „Unsichtbarkeitsanzug“ im Wettlauf gegen die Ukraine

Russland enthülle Pläne für einen „Unsichtbarkeitsanzug“ im Wettlauf gegen die Ukraine, hatte gleichzeitig mit Top War das Magazin Newsweek berichtet. Newsweek-Autor Ellie Cook hatte auch Bezug genommen auf Mychajlo Fedorow, der mit Blick auf die eigenen Tests behauptete, die Ukraine könne bereits 150 Anzüge herstellen. Im Oktober hatte die Ukraine auch veröffentlicht, dass ihre FPV-Drohnen (First-Person-View) jetzt auch mit Wärmebildkameras ausgestattet seien und sie insofern auch thermische Signaturen von einzelnen Soldaten wahrnehmen könnten.

Defense Express berichtete bereits im April 2023 von halbwegs erfolgreichen Unternehmungen Russlands, seine Soldaten thermisch unsichtbar zu machen, und dass Privatfirmen damit warben, solche Anzüge herzustellen. „Tatsächlich sind solche Anzüge keine Seltenheit und laut Informationen russischer Online-Shops recht günstig. Einer der Hersteller bietet einen brandneuen Anzug für 47 (44 Euro) Dollar an“, so das Magazin.

Auch in Militärforen ist ein thermischer Tarnanzug seit bestimmt zehn Jahren ein Thema: „Ich habe vor einiger Zeit ein Interview mit einem US-Helikopterpiloten gesehen, der sagte, die Taliban würden sich vor seinen Wärmebildgeräten verstecken, indem sie sich mit Alufolie umhüllen ... Solche, die man spottbillig im Laden kaufen kann, und die ist gar nicht so schwer“, schrieb User „Julian Williams“ 2015 im Online-Forum World Defense. Tatsächlich gilt das Gewicht als eines der hauptsächlichen Hindernisse der thermischen Selbstverteidigung.

Der User „crimsonghost747“ hatte in einem vorherigen Post die Ponchos scharf kritisiert und behauptet, dass ein Anti-Wärme-Anzug einem normalen Infanteristen wahrscheinlich kaum bis gar nichts nützen würde: „Er ist ein zusätzliches Kleidungsstück, das man anziehen, mit sich herumtragen, ersetzen und waschen muss. Und auch wenn das Gewicht nicht viel ist, zählt jedes bisschen, da die Lasten, die heutzutage getragen werden, schon fast übermenschlich sind.“ Die User verwiesen auf die Nützlichkeit der Anzüge für Spezialkräfte, von deren Lautlosigkeit und Unsichtbarkeit die Missionen abhingen, oder wie ausgewiesene Spezialisten wie Scharfschützen, die stundenlang in ihrer Stellung ausharren müssten.

Verluste durch Ausrüstung? Berichte sprechen vom „Thermoskannen-Effekt“

Mychajlo Fedorow gibt das Gewicht der Anzüge mit zwei bis zweieinhalb Kilo an; sie sind also etwas leichter als die Kalaschnikow-Gewehre, die aufmunitioniert fast vier Kilo wiegen. Zudem wird in Foren behauptet, viele ukrainische Soldaten benutzten eher alte sowjetische Ausrüstung, die ohnehin etwas schwerer sei als westliche. Gregor Dethloff hält fest, dass die durchschnittliche Kampfausrüstung eines Soldaten 28,6 Kilogramm wiege und im Rahmen eines notfallmäßigen Annäherungsmarsches auf bis zu 59,7 Kilogramm hochschnellen könne – was einem durchschnittlichen Körpergewichtsanteil von ungefähr 77 Prozent gleichkomme, wie Dethloff neben anderen Autoren 2019 für die Zeitschrift Wehrmedizin und Wehrpharmazie herausgefunden hat.

Neben dem Umstand der Behinderung scheinen die bisherigen Lösungen wenig ausgereift zu sein. Die Berichte sprechen vom „Thermoskannen-Effekt“: Die thermische Reduktion wird erreicht durch den mehrschichtigen Aufbau des Materials, der die Wärme des Körpers isolieren soll anstatt sie abzugeben. Laut Defense Express soll sich die langwierige Entwicklung der Anzüge erklären durch die schwierige Wahl des Materials, das sowohl eine hohe Wärmereflexion als auch eine geringe Emission im Infrarotsektor aufweisen muss.

Das ist keine Science-Fiction – das ist die Realität der modernen Kriegsführung“, schreibt die 56. selbstständige motorisierte Infanteriebrigade zu einem Video, das sie in den Antidrohnen-Anzügen zeigt – die Anzüge sollen sie an die Umgebung anpassen wie Chamäleons. Tarnen und Täuschen seien wieder zu den Generaltugenden einer modernen Armee zu zählen, erklärte beispielsweise Oberstleutnant Martin Winkler, Leiter des Sachgebietes „Auswertung“ im Kommando Heer, im Bundeswehr-Podcast Nachgefragt. Bei den Einsätzen beispielsweise in Afghanistan oder Mali waren Armeen im Gegenteil darum bemüht, wie Winkler sagte, „offen Präsenz zu zeigen und zu stabilisieren“.

Webstuhl-Offensive: Diese Netze sind gefragt, weil die Ukraine auch an diesem Rüstungsgut Mangel leidet

Das erweise sich schon in den aktuellen militärischen Konflikten beinahe als überholt, das Gefechtsfeld wird gläsern werden. Umso wichtiger sei das Legen falscher Fährten beziehungsweise das Vermeiden eigener Spuren. Im Gegensatz zum Antidrohnen-Poncho als vermeintliches Hightech-Produkt scheint die Produktion von gängigem Tarnmaterial noch relativ rustikal zu laufen, wie das Magazin Medical Anthropology Quarterly im vergangenen November berichtet hat. Das Weben von Tarnnetzen sei ein kulturelles Phänomen, das die Ukraine seit Beginn der groß angelegten russischen Invasion im Februar 2022 erfasst habe. Allerdings arbeiten für jede Kriegspartei Freiwillige an Tarnanzügen.

In ukrainischen Städten jeder Größe bestünden mehrere Gruppen mit dem ausschließlichen Ziel des Herstellers von Tarnnetzen für einzelne Soldaten oder Fahrzeuge, wie Autorin Maryna Nading über die Gruppe „Maskuty“ (Maskieren) berichtet. Das beginne mit der Beschaffung des Materials über das Weben vor Ort oder das Koordinieren des Webens durch verstreut arbeitende Weber. Diese Netze seien gefragt, weil sie in der Regel Einwegartikel seien und die Ukraine auch an diesem Rüstungsgut Mangel leidet. Laut Maryna Nading seien die Soldaten darauf angewiesen, dass Freiwillige Netze für sie herstellten – in Massen.

„Bis zum 22. August 2024 haben Maskuty-Mitglieder 2.456 Tarnnetze für Schützengräben, Armeefahrzeuge, Evakuierungsbusse und ein kleines Flugzeug sowie 1.638 Kikimory (Tarnuniformhüllen) hergestellt.“

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