„Kriegsgefahr von morgen“: Lettland zieht neue Gräben gegen Putins Panzer
„Code Red“ heißt das Gedankenspiel: die Invasion des Baltikum. Doch wie kann Lettland Russlands mögliche Offensive stoppen? Die Zeit für Panzergräben drängt.
Riga – „Wir graben die Straße aus und legen hier einen Panzergraben an, damit sich auf dieser Straße keine Fahrzeuge bewegen können, darunter auch Panzer“, sagt Kaspars Lazdins. Den Oberstleutnant der lettischen Streitkräfte zitiert der Kiew Independent unter Bezug auf Nachrichten des lettischen Senders LSM. Der Soldat bezieht sich dabei auf die Bemühungen der baltischen Staaten, sich verteidigungsbereit zu machen für die Zeit nach dem Ukraine-Krieg. Als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ zitiert die Neue Zürcher Zeitung den Kreml-Chef Wladimir Putin bezüglich der Abspaltung der baltischen Staaten aus der einstigen Sowjetunion und berichtet über die Stimmung der drei baltischen Staaten als entsprechend „alarmiert“.
Um dem Westen den wahrscheinlichen Ernst der Lage deutlicher vor Augen zu führen, schwappt auch aus der Ukraine Pessimismus herüber: In ihren Befürchtungen bestärkt werden die Balten jetzt durch den ukrainischen Generalmajor Vadym Skibitsky, der damit rechnet, dass Putin das Baltikum innerhalb von sieben Tagen überrennen könnte. Newsweek berichtet über ein Interview Skibitskys im Economist, in dem der stellvertretende Leiter des Militärgeheimdienstes der Ukraine, dem Magazin zufolge, vom Westen fordere, Russland entschlossen entgegenzutreten.
„Die Russen werden das Baltikum in sieben Tagen einnehmen“, sagte er. „Die Reaktionszeit der Nato beträgt zehn Tage.“ Skibitsky nimmt den 9. Mai zum Anlass, vor Russlands Ambitionen zu warnen – der 9. Mai wird in Russland als „Tag des Sieges“ der Sowjetunion über Nazi-Deutschland begangen, wie der Deutschlandfunk berichtet. Auch Gabrielus Landsbergis sieht dunkle Wolken am Horizont aufziehen: „Wir spüren, dass der Krieg uns nahe ist“, zitiert das ZDF den litauischen Außenminister.
Putins potentielles Problem: Drachenzähne und tschechische Igel
In Lettland startet ein mehrjähriges Projekt, an dessen Ende die Grenze zwischen den drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen zu Russland beziehungsweise seiner Enklave Kaliningrad mit mindestens 600 Bunker gesichert werden soll, dazu kommen Stacheldraht und Depots, aus denen im Verteidigungsfall Panzersperren aus Betonblöcken, den „Drachenzähnen“, und sogenannte „tschechische Igel“ blitzschnell gegen Angriffe aufgefahren werden könnten. „Tschechenigel“ sind drei hüfthohe gewinkelte Stahlträger, die ineinander verschweißt werden und Panzern die Durchfahrt verbauen können. Die erste Verteidigungslinie in Lettland entstehe etwa einen Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt, nahe dem Grenzkontrollpunkt Terechowo in der Region Ludza, wie der Sender LSM berichtet.
„Stahlbetonbunker, Maschinengewehrnester oder für Artilleriesysteme vorbereitete Stellungen – das ist alles ein komplexes Thema. Es kommt darauf an, um welchen Grenzabschnitt es sich handelt. Natürlich wird niemand mitten im Wald oder am Rande eines Sumpfes Gebäude errichten, um gepanzerte Fahrzeuge aufzuhalten.“
Die Balten, die dieses Projekt im Januar dieses Jahres gestartet hatten, wollen ihren „Festungswall“ aus einer Kombination aus natürlichen wie künstlichen Barrieren errichten – dieser Teil des Vorhabens läuft in den baltischen Medien unter dem Stichwort „Anti-Mobilitätsplan“. Über das Anlegen von Minenfeldern wird noch diskutiert. Aktuell scheint aber das Skizzieren von dessen Verlauf selbst noch verschiedene Hindernisse nehmen zu müssen. Das Hinterland der Grenze ist im Baltikum kein Territorium unter uneingeschränkter Verfügungsgewalt, sondern befindet sich in Privatbesitz. Unklar ist, ob die Regierung bereits alle geplanten Parzellen nutzen darf. Jedenfalls berichtet LSM davon, dass die Eigentümer ihr Eigentumsrecht behalten und lediglich das Nutzungsrecht übertragen.
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Lettlands künftige Trümpfe: Stahlbetonbunker, Maschinengewehrnester, Artilleriestellungen
Aber auch die Nutzung scheint streng nach Vorschrift zu erfolgen, wie Kaspars Lazdins erläutert. Die Depots für Munition scheinen noch exakt zu planen zu sein, entsprechend den gesetzlichen Regelungen zur Lagerung dieser Güter und den militärischen Notwendigkeiten, wie er sagt – das ist ein Punkt unter vielen dieses Mammutprojekts, das an den Hadrianswall der Römer in dem von ihnen besetzten Britannien oder die Maginot-Linie der Franzosen eingangs des Zweiten Weltkriegs erinnert.
„Stahlbetonbunker, Maschinengewehrnester oder für Artilleriesysteme vorbereitete Stellungen – das ist alles ein komplexes Thema. Es kommt darauf an, um welchen Grenzabschnitt es sich handelt. Natürlich wird niemand mitten im Wald oder am Rande eines Sumpfes Gebäude errichten, um gepanzerte Fahrzeuge aufzuhalten“, sagte Raimonds Graube der Baltic Times.
Lettlands ehemaliger Oberbefehlshaber rechnet mit einer Bauzeit von mehreren Jahren: „Die natürlichen Bedingungen sind in Estland und Lettland sehr unterschiedlich, daher werden sich die Bunkerverteidigungssysteme von Land zu Land unterscheiden“, wie ihn die Baltic Times zitiert. Die entscheidende Frage ist, ob Wladimir Putin überhaupt ernsthaft das Baltikum unterjochen zu können glaubt, und, wenn ja, wann er den richtigen Zeitpunkt dafür gekommen hält. Inzwischen haben die Nato-Partner, allen voran Deutschland, ihre Präsenz zahlenmäßig aufgestockt. Das allein, wird ihn aber kaum abschrecken, fürchtet Justina Budginaite-Froehly vom Center for European Policy Analysis (CEPA) in Washington D.C..
Deutschlands Albtraum mit Ansage – die „Kriegsgefahr von morgen“
„Obwohl dies eindeutig eine Verbesserung gegenüber der Alternative darstellt, ist es offensichtlich, dass die Nato-Truppen vor Ort, selbst wenn sie, wie auf dem Nato-Gipfel in Madrid vereinbart, auf Einheiten in Brigadengröße aufgerüstet werden würden, sehr erhebliche Verstärkungen benötigen würden, um einem groß angelegten russischen Invasion standhalten zu können“, schreibt sie. „Steht ein Angriff russischer Truppen auf das Baltikum oder Polen also wirklich unmittelbar bevor?“, fragten Dominic Possoch und
Adrian Dittrich Ende Februar für den BR24. „Sobald die Kampfhandlungen in der Ukraine im wesentlichen Teil eingestellt sind, läuft die Uhr“, antwortet Christian Mölling.
„Sobald die Kampfhandlungen in der Ukraine im wesentlichen Teil eingestellt sind, läuft die Uhr.“
Der Sicherheits- und Verteidigungsexperte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) spricht von einer „Kriegsgefahr von morgen, nicht von heute“, wie er sagt. Verschiedene Experten streiten darüber, wann „morgen“ sein könnte: Die DGAP veranschlagt, laut Mölling, einen Zeitraum zwischen sechs und neun Jahren. Andere Experten rechnen mit bis zu fünf Jahren.
Putins potentieller Plan: „Code Red“ – Angriff auf das Baltikum
Wladimir Putin könnte vielleicht auch von jetzt auf gleich zuschlagen. „Anstatt wochenlange Vorbereitungen zu treffen (wie in der Ukraine), werden wir die Offensive mit dem starten, was wir an der Front haben. Ja, die Nato wird eine gewisse militärische Verstärkung bemerkt haben, aber sie wird nicht sicher sein. Wir werden unsere Absichten einem Großteil unserer eigenen Regierung oder ausländischen Einheiten nicht mitteilen; Selbst China wird sich dessen nicht bewusst sein“, schreibt Wissenschaftler Jan Kallberg. Für das CEPA hat er im Januar ein Szenario aus der möglichen Strategie Wladimir Putins veröffentlicht: „Code Red: Wie Russland das Baltikum erobert“.
Demnach würden nach dem derzeitigen Stand der Nato-Bereitschaft wahrscheinlich polnische Truppen erst 72 Stunden nach Alarmierung im Baltikum einsatzfähig und andere nennenswerte Kräfte wohl erst nach zwei Wochen nachgerückt sein. Die aktuellen Nato-Verstärkungen im Baltikum bezeichnet er als „Stolperkräfte“, aus gegnerischer Sicht also höchstens Truppenstärken, um eine Invasion zu verlangsamen, anstatt sie zurückwerfen zu können. Diese Truppen könnten vom Aggressor auch umgangen werden, mutmaßt Kallberg. Er ist Forscher am Army Cyber Institute in West Point und Assistenzprofessor an der United States Military Academy in West Point.
Nachlässigkeit der Nato: „Kluft zwischen eingebildeter und tatsächlicher Bereitschaft“
Seine eigentliche Operation „Code Red“ wäre simpel: Der erste Tag begänne mit intensivem Raketenbeschuss auf kritische Infrastruktur. Schnelle Kräfte aus Panzern und Hubschraubern würden geschützt durch Raketenartillerie vorstoßen durch das nördliche Estland und Tallinn, wo zeitgleich ein Bataillon Marineinfanterie anlanden würde. Im Süden stoße ein Keil aus Weißrussland nach Nordwesten durch Litauen in Richtung Kaliningrad vor und wendete sich dann südlich, um polnische Spitzen aufzuhalten, bevor nachrückende Kräfte Litauen eroberten. Lettland würde nach Kallbergs Plan in die Zange genommen und zunächst ignoriert werden.
Kallberg zufolge würde Russland dann über der Ostsee eine EMP-Bombe zünden – durch deren elektromagnetischen Impuls Gotland lahmgelegt wäre und damit auch die Koordination des Nachschubs über die Ostsee. Luftlandeeinheiten würden sich dann der Insel bemächtigen; mit den im Handstreich eroberten Territorien hätte Wladimir Putin dann die Trümpfe in der Hand, der Nato mit einem Atomschlag zu drohen, wenn sie die besetzten Gebiete wieder freikämpfen wollte.
Eine „hervorragende Chance“ für eine Attacke gegen das Baltikum attestiert der Wissenschaftler Kallberg den Russen allein aufgrund des Verhaltens des Westens, wie er schreibt: aufgrund dessen „Kluft zwischen eingebildeter und tatsächlicher Bereitschaft“.