Experte warnt: AfD könnte bei Vertrauensfrage „Chaos stiften“ und überraschend für Scholz stimmen
Neuwahlen am 23. Februar gibt es nur, wenn Scholz die Vertrauensfrage verliert. Doch die AfD den SPD-Plan durchkreuzen und taktisch für den Kanzler stimmen.
Berlin – Es scheint schon so klar wie das Amen in der Kirche: Am 23. Februar 2025 gibt es in Deutschland Neuwahlen. Doch vorher gibt es noch eine entscheidende Hürde: Kanzler Olaf Scholz (SPD) muss die Vertrauensfrage im Bundestag verlieren.
Am 16. Dezember werden die Bundestagsabgeordneten darüber abstimmen, ob sie dem Kanzler noch vertrauen. Den Bundestag auflösen und Neuwahlen anberaumen kann Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nur, wenn der Kanzler das Vertrauen der 733 Parlamentarier mehrheitlich nicht mehr hat.
Dass Scholz die Vertrauensfrage verlieren wird, gilt weithin als ausgemacht – aber ist das wirklich so? Vor allem im Fall der viertgrößten Fraktion im Bundestag, der AfD, sieht Politikwissenschaftler Prof. Dr. Eric Linhart von der TU Chemnitz durchaus Gründe, weshalb sie Scholz einen Strich durch die Rechnung machen könnte.
AfD könnte bei Vertrauensfrage taktisch für Scholz stimmen – „Unruhe stiften“
„Der AfD ist grundsätzlich vieles zuzutrauen“, sagte Linhart im Gespräch mit IPPEN.MEDIA. „Man hat auch an anderer Stelle schon gesehen, dass sich die AfD aus strategischen Gründen auf eine gewisse Weise verhält – nur um Chaos zu stiften und parlamentarische Prozesse ad absurdum zu führen.“
Der Politikwissenschaftler nennt als Beispiel die Skandal-Wahl von Thomas Kemmerich (FDP) zum Ministerpräsidenten von Thüringen im Jahr 2020. Die AfD stellte damals einen eigenen Kandidaten auf, stimmte dann aber für Kemmerich, der daraufhin rund einen Monat lang Ministerpräsident war. Ein Eklat, den die damalige Kanzlerin Angela Merkel „unverzeihlich“ nannte. Auch damals sei es der AfD vor allem darum gegangen, „Unruhe zu stiften“, so Linhart.
Professor Dr. Eric Linhart ist Politikwissenschaftler und seit 2015 Professor für Politische Systeme an der Technischen Universität in Chemnitz. Er beschäftigt sich dabei schwerpunktmäßig mit Wahlen, Wahlsystemen, Parteien und Koalitionen. Linhart ist außerdem seit 2020 Editor-in-Chief der renommierten Fachzeitschrift „Politische Vierteljahresschrift“, in der neue Forschungsergebnisse der Politikwissenschaft vorgestellt werden.

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Gewinnt Scholz Vertrauensfrage mithilfe der AfD? Experte verweist auf Brandmauer-Strategie
Chaos und Unruhe würde auch dann herrschen, wenn Scholz plötzlich mithilfe der AfD die Vertrauensfrage gewinnen würde, so Linhart. Und: Die AfD würde damit auch ein anderes taktisches Ziel erreichen, nämlich das Aufweichen der sogenannten Brandmauer nach rechts. „Wenn die AfD jetzt sagen könnte, ,seht her, wir haben gemeinsam mit SPD und Grünen den Kanzler im Amt gehalten‘, könnte sie das strategisch gedacht mit Blick auf die Brandmauer für sich verbuchen“, erklärt der Politikwissenschaftler.
Inhaltlich könnten AfD-Abgeordnete bei einer Abstimmung pro Scholz bei der Vertrauensfrage so argumentieren, dass sie Friedrich Merz als Kanzler damit verhindern wollten. Einer aus der AfD hat dies bereits getan: Jürgen Pohl kündigte in einem internen Telegram-Chat an, dass er für Scholz stimmen werden, weil er ihn im Vergleich zu Merz für „das kleinere Übel“ halte. Dies bestätigte Pohl gegenüber dem Magazin Politico.
Scholz könnte Vertrauensfrage mit Stimmen anderer Fraktionen gewonnen – Keine Neuwahlen?
Damit Scholz die Vertrauensfrage mithilfe der AfD unfreiwillig gewinnen würde, müssten mindestens 42 der 76 AfD-Bundestagsabgeordneten für Scholz stimmen, also weit mehr als die Hälfte. Da die AfD-Parteiführung um Alice Weidel und Tino Chrupalla sich bereits gegen ein Votieren für Scholz und für schnelle Neuwahlen ausgesprochen haben, hält Politikwissenschaftler Linhart dies nicht für wahrscheinlich – aber auch nicht undenkbar.
Vor allem, wenn auch noch Abgeordneter anderer Fraktionen sich plötzlich dazu entschieden, bei der Vertrauensfrage für den Kanzler zu stimmen, wären Neuwahlen plötzlich gar nicht mehr so sicher. „Bei der Linken würde ich es nicht völlig ausschließen, weil denen Rot-Grün natürlich deutlich näher ist als Schwarz-Gelb“, so Linhart im Gespräch mit unserer Redaktion. Im Fall des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) sei die Einschätzung schwieriger.
Vertrauensfrage von Scholz: Welche Fraktionen wohl gegen und für den Kanzler stimmen werden
Dass die Abgeordneten der Union und FDP gegen den Kanzler stimmen werden, ist wohl eindeutig: Friedrich Merz drängt seit Wochen auf schnelle Neuwahlen und hat laut Umfragen beste Chancen, danach selbst Kanzler zu werden. Dass die FDP nach dem spektakulären Ampel-Bruch samt Kleinkrieg zwischen Scholz und FDP-Chef Christian Lindner noch an der rot-grünen Koalition festhalten will, ist ebenso undenkbar.
Die SPD überlegt bereits, wie sie das Dilemma lösen könnte. Und es gibt Möglichkeiten: SPD-Abgeordnete könnten sich bei der Vertrauensfrage enthalten. Somit hätte Scholz weniger Zustimmung aus eigenen Reihen und es würde weniger ins Gewicht fallen, wenn AfD-Abgeordnete taktisch für den Kanzler votieren. „Das scheint mir ein sinnvoller Weg zu sein, um das Risiko gar nicht erst einzugehen, dass andere Parteien die Abstimmung missbrauchen“, so Experte Eric Linhart.
Was passiert, wenn Scholz die Vertrauensfrage wider willen gewinnt?
Was aber würde geschehen, wenn Scholz wider Willen die Vertrauensfrage gewinnt? Er würde erstmal Kanzler bleiben, hätte allerdings nach Ausscheiden der FDP aus der Ampel-Koalition immer noch keine Regierungsmehrheit im Parlament. Linhart geht davon aus, dass er Kanzler dann erneut die Vertrauensfrage stellen würde. (smu)