Zum Ferienstart: Die Buchtipps unserer Kulturredaktion für unterhaltsame Stunden im Urlaub. Das gehört in jeder Strandtasche
Und jetzt mal bitte Schluss mit produktiv sein. Sommerurlaub, das heißt: Auch das Hirn darf Pause machen. Klar kann man sich auf die Sonnenliege Dostojewski mitnehmen. Aber seien wir ehrlich: So ein völlig vorhersehbarer Liebesroman oder ein Krimi tun doch auch mal gut. So wie der Körper bei 40 Grad schon von Wassermelone satt wird, freut sich das Oberstübchen über leichtere Kost. Hier stellen wir Ihnen Bücher vor, deren Seiten nur darauf warten, mit Sonnencreme-verschmierten Fingern durchgeblättert und mit Eis bekleckert zu werden. Und wenn wir sie dann im Winter aus dem Regal ziehen, erinnern uns die Flecken an die herrlich flirrende Sommerzeit. Die ist jetzt. Machen Sie sich’s schön!
Martina Hefter: „Hey Guten Morgen, wie geht es dir?“
Bis zum Januar müssen wir uns gedulden: Dann gibt’s Martina Hefters mit dem Deutschen Buchpreis geadelten Roman „Hey Guten Morgen, wie geht es dir?“ auch als Taschenbuch. Wäre allerdings jammerschade, noch so lange zu warten. Zu faszinierend, bittersüß, unterhaltsam und wahrhaftig ist die Geschichte der Tänzerin Juno, einer Frau über 50, mit großem Bewegungsdrang, die in ihrer Beziehung erstarrt ist. Während sie in der gemeinsamen Altbauwohnung fleißig Dehnübungen macht, ist ihr schwerkranker Partner Jupiter auf Rollstuhl und Pflegebett angewiesen. Nachts flieht Juno ins Internet, chattet aus Langeweile mit Love-Scammern, die ihr Liebe vorgaukeln und die sie äußerst kreativ zurück belügt – bis sie auf den Afrikaner Benu trifft. Hefters Roman hat alles, was gute Lektüre braucht: Tiefe und Traurigkeit, Leichtigkeit und Humor. ASTRID KISTNER (Martina Hefter: „Hey Guten Morgen, wie geht es dir?“. Kett-Cotta, Stuttgart, 222 Seiten; 22 Euro.)
Daria Shualy: „Lockvogel“
Als diese Zeilen geschrieben wurden, hatte es in Tel Aviv 29 Grad Celsius. Das ist nicht ganz unwichtig, denn es steigert die Freude an der Lektüre dieses Romans, wenn er an heißen Orten gelesen wird. So wird Lesen zum ganzheitlichen Erlebnis. Denn der Autorin Daria Shualy gelingt es, die flirrende Hitze, die ihren Figuren zu schaffen macht, selbst zur Protagonistin der Geschichte zu machen.
Doch auch wer in kühleren Weltregionen seinen Urlaub verbringt, wird „Lockvogel“ gebannt und mit Gewinn lesen. Im Zentrum steht Masi Morris, in der die Schriftstellerin viele Aspekte vereint hat, die das Personal in Detektivgeschichten ausmacht: Morris ist ein gebrochener Charakter, war einst bei der Polizei, ermittelt jetzt auf eigene Faust. Sie ist taff und doch sensibel, nimmt sich, was sie braucht – und bekommt trotzdem immer wieder die Härte des Lebens zu spüren. Ihre Methoden sind mitunter unangemessen, aber irgendwie halt unwiderstehlich. Kurz: Wer sich im Genre auskennt, wird Figuren wie dieser bereits begegnet sein. Es stört in keinem Moment.
In „Lockvogel“ (der Roman ist gerade auch als reisetaugliches Taschenbuch erschienen) erhält Masi Morris von ihrem Jugendfreund den Auftrag, sich sofort auf die Suche nach seiner Ehefrau zu machen. Jasmin Schechter, Tochter einer der reichsten Familien des Landes, scheint spurlos aus einem Café in Tel Aviv verschwunden zu sein. Morris beginnt mit ihrer Arbeit und kommt recht schnell darauf, dass es hier um mehr geht, als um eine Entführung.
Daria Shualy hat als Journalistin gearbeitet, bevor sie als Autorin debütierte. Davon profitiert ihr Stil: In knappen Sätzen skizziert sie Figuren, Orte, Atmosphären. Sie versteht etwas von Dramaturgie, vom Spannungsaufbau und weiß, wann sie erzählerisch Tempo machen muss. Besonders gut glücken ihr die Frauenfiguren, die bei Genre-Literatur ja häufig arg ausgedacht (oder vom Autor zurechtfantasiert) sind. Eines noch: Legen Sie sich nicht zu früh fest, wer hier der „Lockvogel“ ist. MICHAEL SCHLEICHER (Daria Shualy: „Lockvogel“. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Kein & Aber, Zürich, 432 Seiten; 16 Euro.)
Victor Lodato: „Honey“
Honey ist 82. So alt, heißt es hier, dass sich Beerdigungen nicht mehr anfühlen wie ein „Auf Wiedersehen“, sondern eher wie ein „Auf bald“. In Wahrheit ist die Titelfigur aber lebendiger als manch 40-Jährige und ihr Leben reichte für drei. Nach Jahren als Kunstexpertin in Los Angeles kehrt sie zurück nach New Jersey, den Ort ihrer Kindheit, den sie einst aus guten Gründen verlassen hatte. Es geht um Rache und Vergebung, um Lieben und Loslassen, um Gut und Böse und vor allem um das Dazwischen. Und um Honey, diese so hinreißende wie komplexe Frau. STEFANIE THYSSEN (Victor Lodato: „Honey“. C.H. Beck Verlag, München, 464 Seiten; 26 Euro.)
Anne Freytag: „Blaues Wunder“
Anne Freytag stellt ihrem Roman ein Zitat von John Steinbeck voran: „Ich frage mich, wie viele Menschen ich in meinem Leben angesehen habe, ohne sie je wirklich gesehen zu haben.“ Und damit sind wir mittendrin in dieser Geschichte über etwas mehr als drei Männer auf einem Boot. Vier Typen sind es und drei Frauen, die sich zu einem gemeinsamen Trip in den Philippinen zusammengetan haben. Und das Boot ist kein einfacher Kutter, sondern eine Superyacht. Der Chef hat seine besten Manager samt Gattinnen eingeladen; auch seine eigene Frau und der erwachsene Sohn sind mit an Bord.
Vordergründig bemüht sich jeder, bei den Sundownern an Deck, den Picknicken in einsamen Buchten, den Abendessen mit reichlich Champagner die Form zu wahren – doch innerhalb der Kabinen spielt das echte Leben. Zerrüttete Beziehungen, Lügen, Neid und Karrieresucht zelebriert Anne Freytag genüsslich. Und schenkt uns zum Schluss ein Ende, das alle feiert, die den Mut haben, ihre Komfortzone zu verlassen. Vor allem: die Ladys, die sich unabhängig machen von Männern, die mehr als Kohle nicht zu bieten haben. Ein Mix aus Beziehungsdrama, Krimi und feministischer Kampfansage. Macht Lust, in See zu stechen. KATJA KRAFT (Anne Freytag: „Blaues Wunder“. Kampa Verlag, Zürich, 256 Seiten; 24 Euro.)
Alain Claude Sulzer (Hrsg.): „Haydn!“
Humor muss er gehabt haben, das hört man ja seiner Musik an. Liebenswürdig war er, auch das ist überliefert. Und beruflich treu: Fast ein Leben lang diente Joseph Haydn den Fürsten der Esterházys, um sehr spät nach London zu touren, wo er als Star verehrt wurde. Aber wie er wohl wirklich war?
Autor Alain Claude Sulzer hat eine Annäherung der anderen Art an den Komponisten unternommen. Für „Haydn!“ bat der Schweizer 20 Kolleginnen und Kollegen um Beiträge. Manche erzählen von sich, was tief blicken lässt, aber auch (oder deswegen?) amüsant ist. Hanns-Josef Ortheil beschreibt eine fiktive Begegnung (von der man gern mehr gelesen hätte), Elke Schmitter gibt Haydns Affäre eine Stimme (der Monolog einer unterschätzten Seitenfrau), Bruno Preisendörfer befasst sich mit Haydns Perücke (also mit einer gesellschaftlich geforderten Mode), Franz Hohler unternimmt mit dem Meister eine Kutschfahrt zum Fußball-Länderspiel. Und die schönste Charakterisierung der Musik stammt von Eva Menasse: Sie klinge, „als versuche ein Welpe im Sonnenlicht die Fliegen zu fangen“. Wissen wir nun mehr über Haydn? Egal, Hauptsache, wir haben uns dieses vergnügliches Buch gegönnt. MARKUS THIEL (Alain Claude Sulzer (Hrsg.): „Haydn!“ Aufbau Verlag, Berlin, 324 Seiten; 26 Euro.)
Ralf Westhoff: „Niemals nichts“
Zu allen Zeiten mussten Bauern um ihre Existenz fürchten. Davon erzählt Ralf Westhoff in „Niemals nichts“. Der Roman spielt Anfang des 19. Jahrhunderts, Liza und Maximilian, die auf zwei benachbarten Höfen groß wurden, heiraten. Maximilians Vater Andres ist unterwegs ins gelobte Land USA und hat dem Sohn nur Schulden hinterlassen. Westhoff beschreibt sehr plastisch den Überlebenskampf des jungen Paares hier und den des Vaters in der Fremde, man riecht das Korn und die Armut – und ist trotzdem gefesselt von der ersten bis zur letzten Seite. RUDOLF OGIERMANN (Ralf Westhoff: „Niemals nichts“. Rowohlt Verlag, Berlin, 224 Seiten; 23 Euro.)