Von Rekordhalter zu astronomischem Rätsel: Neue Erkenntnisse stellen „fernsten Stern“ in Frage
Ein kosmisches Missverständnis? Der als fernster Stern gefeierte „Earendel“ könnte in Wahrheit etwas völlig anderes sein.
Berkeley – Neue Beobachtungsdaten des „James Webb“-Weltraumteleskops (JWST) stellen einen bahnbrechenden astronomischen Fund von 2022 infrage. Was Forschende seit damals für den am weitesten entfernten jemals beobachteten Stern halten, könnte tatsächlich etwas ganz anderes sein.

Als Wissenschaftler 2022 mithilfe des „Hubble“-Weltraumteleskops einen Stern in 12,9 Milliarden Lichtjahren Entfernung entdeckten, sorgte dies für Aufsehen in der astronomischen Gemeinschaft. Der als „Earendel“ (altenglisch für „Morgenstern“) bezeichnete Himmelskörper galt als Rekordhalter unter den beobachteten Einzelsternen.
Am weitesten entfernter Stern ist womöglich etwas ganz anderes
„Wir konnten es kaum glauben, denn er war so viel weiter entfernt als der bisher am weitesten entfernte Stern“, erklärte damals der Astronom Brian Welch, Hauptautor der ursprünglichen Studie. Doch aktuelle Forschungsergebnisse eines Teams um Massimo Pascale von der University of California, Berkeley, deuten darauf hin, dass es sich bei „Earendel“ möglicherweise um einen Kugelsternhaufen handelt. Die Ergebnisse wurden kürzlich im Fachmagazin The Astrophysical Journal veröffentlicht.
Die Beobachtung von „Earendel“ wäre ohne ein besonderes kosmisches Phänomen nicht möglich gewesen: eine Gravitationslinse. Dieses von Albert Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie vorhergesagte Phänomen nutzt die Tatsache, dass massereiche Objekte das Licht in ihrer Umgebung „biegen“ und dahinterliegende Objekte vergrößern können. Im Fall von „Earendel“ fungierte ein gewaltiger Galaxienhaufen zwischen dem Objekt und der Erde als natürliche Vergrößerungslinse. Nur durch diesen Effekt konnten Astronomen überhaupt Licht von einem so weit entfernten Himmelskörper erfassen.
Licht von „Earendel“ scheint von mehreren Sternen zu stammen
Pascales Forschungsteam analysierte Daten des NIRSpec-Instruments des „James Webb“-Weltraumteleskops, um Alter und Metallgehalt von „Earendel“ genauer zu bestimmen. Die Untersuchungen führten zu einer überraschenden Erkenntnis: Das Lichtspektrum ähnelt eher dem kombinierten Licht mehrerer Sterne als dem eines Einzelsterns. „Diese Arbeit kommt zu dem Ergebnis, dass ‚Earendel‘ ziemlich genau den Vorstellungen entspricht, wie Kugelsternhaufen, die im lokalen Universum beobachtet werden, in den ersten Milliarden Jahren des Universums ausgesehen haben könnten“, erläutert Pascale gegenüber LiveScience.
Brian Welch aus dem ursprünglichen Entdeckungsteam von „Earendel“ zeigt sich von der neuen Hypothese noch nicht vollständig überzeugt. Er weist darauf hin, dass das Spektrum eines durch eine Gravitationslinse beobachteten Einzelsterns und das eines Sternhaufens sehr ähnlich sein können. „Es ist wichtig, alle verfügbaren Daten zu berücksichtigen, wenn man versucht, diese stark vergrößerten Objekte zu klassifizieren“, betont Welch. Obwohl er die Messungen als „robust und gut durchgeführt“ anerkennt, merkt er an, dass die Studie „in ihrem Umfang begrenzt“ sei, da sie nur die Sternhaufen-Hypothese berücksichtige.
Was ist die wahre Natur von „Earendel“?
Die Diskussion um die wahre Natur von „Earendel“ wird mit Sicherheit weitergehen. Zukünftige Beobachtungsprogramme mit dem „James Webb“-Weltraumteleskop sollen weitere Erkenntnisse liefern. „Es wird spannend sein zu sehen, was zukünftige JWST-Programme dazu beitragen können, die Natur von ‚Earendel‘ weiter zu entschlüsseln“, blickt Pascale optimistisch in die Zukunft. (tab)