Gaza, Geiseln, Gesellschaft: Netanjahus dreifache Krise wird zu Israels Zerreißprobe

  1. Startseite
  2. Politik

Kommentare

Israels Ex-Verteidigungsminister ruft dazu auf, sich der Regierung anschließen, um eine Waffenruhe mit der Hamas zu erreichen. Netanjahu steckt in der Zwickmühle. Eine Analyse.

Tel Aviv – „Hört auf das Volk: Beendet diesen Krieg und bringt alle heim.“ Vor dem Hintergrund einer neuen Offensive auf Gaza verschärft sich die Stimmung in Israel immer weiter. Angehörige der verbleibenden Geiseln protestierten jetzt vor den Wohnsitzen israelischer Minister und fordern erneut eine Waffenruhe und einen Deal mit der Hamas über die Freilassung der Entführten. „Wir werden ein weiteres Hinauszögern nicht vergeben“, hieß es in einer Mitteilung aus dem Kreis der Geiselfamilien.

Es ist nicht das erste Mal, dass Regierungschef Benjamin Netanjahu um die Unterstützung der israelischen Gesellschaft fürchten muss. Die Geiselfrage ist zur offenen Wunde Israels geworden – sie schmerzt, sie entzündet sich immer wieder. Die Gaza-Offensive könnte militärisch in einer Sackgasse enden. Hinzu kommt gesellschaftliche Instabilität, sichtbar im Konflikt um den Wehrdienst für Ultraorthodoxe. Inmitten der zunehmenden internationalen Kritik wird immer mehr deutlich: Netanjahu kämpft nicht nur gegen äußere Feinde, sondern auch gegen die Grenzen seiner eigenen Macht.

Netanjahu vor Gaza-Offensive in Bedrängnis: Debatte um Geisel-Rettung spaltet Israel

Für sein politisches Überleben ist Netanjahu aktuell auf rechtsextreme Koalitionspartner angewiesen, die ein Abkommen mit der islamistischen Terrororganisation Hamas über eine Waffenruhe strikt ablehnen. Angesichts der gegenwärtigen Lage in Israel schlägt nun der Oppositionspolitiker Benny Gantz eine gemeinsame Übergangsregierung vor. Für Netanjahu könnte dies eine seiner vielen offenen Fronten entschärfen – zumindest vorübergehend. Allerdings gelten die Chancen für ein solches Bündnis als äußerst gering.

Die Geiseln seien in Lebensgefahr, „ihre Zeit läuft ab“, sagte Gantz. Mit Blick auf Videoaufnahmen von bis auf die Knochen abgemagerte Geiseln erinnerte der Oppositionspolitiker an seine Mutter Malka, eine Überlebende des Konzentrationslagers Bergen-Belsen. „Meine Mutter hat mir beigebracht, dass das Leben etwas Heiliges ist“. Israel stehe an einer Wegkreuzung, sagte Gantz. Der ehemalige Verteidigungsminister hatte Netanjahus Regierung 2024 nach Meinungsverschiedenheiten verlassen. Nun forderte er andere Oppositionspolitiker auf, sich mit ihm für ein halbes Jahr einer „Regierung zur Freilassung der Geiseln“ anzuschließen. 

Gaza-Offensive: Israel zwischen Rettung und Risiko

Netanjahu ist eingeklemmt zwischen Gaza und den Geiseln – jeder Schritt nach vorn droht das eine zu gefährden und das andere zu verlieren: Die Hamas hält weiterhin Geiseln in urbanen Gebieten des Gazastreifens fest, was eine militärische Offensive zumindest erschwert. Und dennoch wird ein erneuter Vorstoß auf die Stadt Gaza vorangetrieben. Womöglich erklärt diese Unsicherheit auch das aktuelle Vorgehen der israelischen Regierung. Laut der Nachrichtenseite ynet tritt das Sicherheitskabinett am Dienstag (26. August) zusammen, um über die Einsatzpläne zur Einnahme der Stadt Gaza abschließend abzustimmen. Parallel soll es um den Stand der indirekten Verhandlungen über ein Abkommen zur Freilassung der Geiseln gehen, bei denen die USA, Katar und Ägypten als Vermittler fungieren.

Menschen protestieren gegen die Entscheidung der Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, Gaza zu besetzen. Sie fordern einen sofortigen Waffenstillstand und ein Abkommen über den Austausch von Gefangenen und Geiseln.
Menschen protestieren gegen die Entscheidung der Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, Gaza zu besetzen. Sie fordern einen sofortigen Waffenstillstand und ein Abkommen über den Austausch von Gefangenen und Geiseln. © IMAGO/Mostafa Alkharouf/Anadolu Agency

Die israelische Regierung scheint in einer Zwickmühle zu stecken. Die Politiker wollen die Hamas besiegen. Doch zugleich scheut sich das Militär davor, in Gebieten zu operieren, in denen Geiseln festgehalten werden könnten. Zusätzlich warnten zuletzt Teile der Armeeführung davor, dass die Truppe unter den Eindrücken der vergangenen Kämpfe ausgelaugt sei und die Gefahr von Fehlern gravierend ansteigen könnte.

Netanjahu unter Druck: Israel steht zwischen Geiselbefreiung und Waffenruhe mit Hamas

Womöglich spielt Netanjahu angesichts der Lage in Gaza auf Zeit: Die Geiselbefreiung war seit dem Hamas-Überfall vor knapp zwei Jahren das oberste Ziel der Regierung. Nach Einschätzung der Sunday Times hatte die Regierung damals versprochen, zusätzlich die Hamas zu besiegen. Ob beide Ziele aktuell erreicht werden können, ist nach Einschätzung der Zeitung fraglich.

Für Angehörige der Geiseln bleibt die drohende Offensive in Gaza die größte Gefahr. Eine Frau warf laut dpa dem Ministerpräsidenten vor, eine Vereinbarung mit der Hamas gezielt zu torpedieren: „Statt einem Deal zuzustimmen, galoppiert er in Richtung der Einnahme von Gaza.“ Netanjahu verurteile die Geiseln damit zum Tode und das Volk Israel zu einem ewigen, überflüssigen Krieg. „Uns bleiben nur noch wenige Tage, um dies zu stoppen“, sagte sie. „Wenn die Einnahme von Gaza beginnt, wird es keinen Deal geben. Es ist jetzt oder nie.“

Kritik an Netanjahu: Geiselfamilien und Ultraorthodoxe protestieren

Doch nicht nur die Geiselfamilien rebellieren gegen Netanjahu. Ultraorthodoxe Demonstranten protestieren seit Wochen gegen eine Einberufung zum Wehrdienst. Erst im vergangenen Jahr war die rechtliche Grundlage durch den Obersten Gerichtshof gestoppt worden, der in den vergangenen Jahrzehnten Ultraorthodoxe vom Dienst an der Waffe befreit hatte. Inzwischen riskieren sie Gefängnisstrafen. Nur ein kleiner Teil der Gruppe hat sich bislang zum Wehrdienst gemeldet.

Für die Netanjahu-Regierung und mögliche Nachfolger könnte das Problem künftig noch größer werden. Denn das Militär braucht dringend neue Rekruten. Und der Anteil der ultraorthodoxen Bevölkerung steigt laut New York Times kontinuierlich an. Ihre Zahl stieg von rund 40.000 im Jahr 1948 auf inzwischen etwa eine Million. Im Jahr 2024 waren etwa 22 Prozent der Sechsjährigen Haredim. Bis 2035 soll ihre Zahl auf 30 Prozent ansteigen. Israels gesellschaftlicher Konflikt ist somit systemisch – und kaum lösbar ohne grundlegende Neuordnungen.

Geiseln, Gaza und Israels Gesellschaft: Netanjahu unter Zugzwang

Israels Krise ist nicht nur militärisch, sondern existenziell-politisch: Für Israel könnten die kommenden Tage entscheidend werden. Nicht nur die internationale Kritik wegen einer Hungersnot in Gaza könnte zunehmen. Die mögliche Gaza-Offensive könnte die humanitäre Lage weiter verschärfen. Und zusätzlich auch das Leben der verbliebenden Geiseln gefährden. Geiseln, Gaza, Gesellschaft: drei eiserne Klammern, die Israels Premier fesseln und kaum noch Bewegung erlauben.

Langfristig drohen Netanjahu große Herausforderungen. Außenpolitisch schwinden die Spielräume, innenpolitisch könnte der Zerfall der Koalition bevorstehen. Die Folge: Selbst wenn es Israel gelingen sollte, die Hamas durch eine neue Gaza-Offensive militärisch weiter zu schwächen, bleibt das Land durch die inneren Spannungen verwundbar. (fbu)

Auch interessant

Kommentare

Liebe Leserinnen und Leser,
wir bitten um Verständnis, dass es im Unterschied zu vielen anderen Artikeln auf unserem Portal unter diesem Artikel keine Kommentarfunktion gibt. Bei einzelnen Themen behält sich die Redaktion vor, die Kommentarmöglichkeiten einzuschränken.
Die Redaktion