FOCUS online: Sie haben mehrere Jahre mit der Familie in den USA gelebt und sind mit einer amerikanischen Familie weiter eng befreundet. „Trotz Trump“, das betonen Sie.
Carolin Oder: Ja, weil das für uns Deutsche schon eher etwas Besonderes ist, denke ich. Wir Deutschen sind aus amerikanischer Sicht häufig „schwarz-weiß“. Das finde ich schade. Denn es treibt die Menschen auseinander.
Im Arbeitsumfeld schätzen Amerikaner an uns Deutschen unsere Leistungsorientierung, die Strukturiertheit und den Fokus aufs Ziel. Wir sind ja auch eine Nation, die viel geleistet, viel aufgebaut hat. „Made in Germany“ steht – oder stand zumindest lange Zeit – für Qualität und Zuverlässigkeit.
Ist der „Fokus aufs Ziel“ denn keine gute Eigenschaft?
Oder: Einerseits wohl schon. Aber es bringt auch Nachteile mit sich, vor allem im Aufbau von Beziehungen. Schubladen gehen viel zu schnell zu, Türen werden und bleiben verschlossen. Das ist nicht gut.
Aus meiner Zeit in den USA weiß ich, dass Deutsche im dortigen Arbeitsumfeld oft als Rückmeldung erhalten: „You need to be more grey! There is not just black and white.“ Ich übersetze das mal mit: Du musst mehr Grautöne zulassen – es gibt noch etwas zwischen Schwarz und Weiß.
Wir Deutschen kommen gerne sofort auf den Punkt, und das erscheint oft harsch und kalt. Amerikaner dagegen verpacken ihre Messages in eine Art „Feedback-Sandwich“, auch dann, wenn Kritik geübt wird.
„Wo Menschen verletzt sind, wird schnell blockiert“
Wie kann man sich das konkret vorstellen?
Oder: Bevor es zu möglichen kritischen Punkten kommt, werden immer erst die guten Dinge aufgezählt: „Das war wirklich toll, wie du vorgestern diese Präsentation gehalten hast“ – so etwa. Und dann kommen mindestens noch zwei oder drei weitere Beispiele, bis es zum Schluss heißt: „Ich glaube allerdings, bei XY könntest du deine Performance noch optimieren …“
Ist das nicht irgendwie unehrlich?
Oder: Finde ich überhaupt nicht. Wo Menschen sich öffnen, entsteht Raum für Veränderung. Wo Menschen verletzt sind, wird schnell blockiert, und dann wird es schwierig, in Kontakt zu bleiben und Lösungen zu finden. Sie kennen vielleicht dieses Beispiel vom Amerikaner und dem Deutschen, die ein Burger-Restaurant besuchen.
Nein.
Oder: Der Burger entspricht nicht den Erwartungen. Das Fleisch ist maximal lauwarm. Als die Bedienung kommt und fragt, ob alles in Ordnung ist, antwortet der Deutsche: „Nein, das Fleisch ist kalt.“
Und der Amerikaner?
Oder: Der sagt: „Das Brötchen war wundervoll. Die Tomate war richtig, richtig frisch. Auch die Sauce liebe ich. Nur das Fleisch hätte vielleicht etwas wärmer sein können.“ Das ist übrigens auch so was – das „hätte“, der Konjunktiv. Man könnte. Wir sollten vielleicht. In Deutschland sagen wir: Wir müssen. Oder auch: Wenn du dieses willst, musst du …
Sie erklären das richtig gut ...
Oder: Ich habe vor unserer Auswanderung im Jahr 2010 als interkulturelle Trainerin gearbeitet. Im Mittelstand in Süddeutschland. Thema war das Beziehungsmanagement zwischen den Kulturen in der Führungsebene. Fachlich kriegen die Führungskräfte das meiste ja ziemlich gut selbst hin. Es hapert am Zwischenmenschlichen.
Haben Sie auch in den USA als interkulturelle Trainerin gearbeitet?
Oder: So war die Idee gewesen. Ich wollte meine Selbstständigkeit weiterführen. Diversität ist in den USA ja schon viel länger ein Thema als bei uns. Insofern dachte ich, das sei vielversprechend. Aber dann wurde unser Kind schwer krank, und die Idee mit der Selbstständigkeit war erst mal dahin.
„In Deutschland gibt es oft nur gerade oder krumm, richtig oder falsch“
Sie haben eingangs von einer amerikanischen Familie berichtet, mit der Sie seit vielen Jahren eng befreundet sind. „Trotz Trump“. Wie haben Sie sich kennengelernt?
Oder: Meine Freundin Kim war eine der Kindergartenmütter, mit denen ich mich direkt gut verstanden habe. Kaffee trinken, während die Jungs im Sandkasten gespielt haben, Wellnesswochenende im Napa Valley … Zwischen uns hat es einfach von Anfang an in jeder Hinsicht gepasst. Wir haben die gleichen Familienwerte, die gleichen Erziehungsansätze, auch denselben Humor.
Das finde ich genauso schön wie die Tatsache, dass es nicht bei der Freundschaft zwischen uns Frauen geblieben ist. Auch unsere Männer verstehen sich blendend. Wir sind sozusagen als zwei Familien miteinander befreundet, unsere Kids eingeschlossen.
Reden die Erwachsenen über Politik?
Oder: Kaum. Anfangs gar nicht. Als wir ankamen – 2010, wie gesagt – war Barack Obama Präsident der Vereinigten Staaten. Damit haben mein Mann und ich uns ziemlich wohl gefühlt. John, Kims Mann, ist seit jeher Republikaner. Möglicherweise hätte uns so etwas in Deutschland gestört. Doch in Amerika gibt es drei Themen, über die man in einer Freundschaft nicht spricht.
Nämlich?
Oder: Man spricht nicht übers Gehalt, nicht über die Religion und eben auch nicht über Politik. Diese Bereiche werden in den Gesprächen elegant umschifft beziehungsweise von vornherein außen vorgelassen.
Kann Freundschaft auf dieser Grundlage funktionieren? Sind solche Verbindungen nicht eher oberflächlich?
Oder: Ein paar Jahre vorher hätte ich das vielleicht auch gedacht. Aber das Gegenteil ist der Fall. Kim und John sind uns total verbunden. Ich habe das Gefühl, sie lassen uns wahnsinnig nah an ihr Herz. Als unser Sohn krank wurde, nur so als Beispiel, kam von dieser Familie die maximale Anteilnahme und Unterstützung.
Nach all dem, was wir über die Jahre mit Kim und John erleben durften, sage ich heute: Es hat viele Vorteile, sich in der Grauzone zu begegnen. In Deutschland gibt es oft nur gerade oder krumm, richtig oder falsch. Du kannst nur für Trump sein oder dagegen. Und wenn du dagegen bist, bist du automatisch gegen alle, die für Trump sind.
Das finde ich zu absolut. Kein Wunder, wirken wir Deutschen weltweit oft harsch und unfreundlich. Die Wahrheit ist: Die allermeisten Menschen tun sich schwer mit unserer direkten, polarisierenden Art.
„Amerikaner sind wie Pfirsiche, Deutsche wie Kokosnüsse“
Man könnte es auch anders sehen: Man weiß, wo man bei uns dran ist.
Oder: Als ich mich damals am Intercultural Communication Institute in Portland, Oregon, ausbilden ließ, lernten wir: Amerikaner sind wie Pfirsiche. Der Pfirsich hat eine ganz weiche Schale. Er heißt dich willkommen. Du beißt in den Pfirsich, du schmeckst, wie süß er ist, du fühlst dich sofort wohl.
Unsere erste Zeit in den USA habe ich genauso erlebt. „Please come over for dinner“, sagen die Nachbarn – bis eben völlig fremde Menschen. Du staunst, wie leicht das alles geht. Wie schnell man neue beste Freunde gewinnt. Sie erzählen dir so viel Privates oder gar Intimes. Gleich auf Anhieb. Aber da ist ja noch der Kern des Pfirsichs – in den vorzudringen, bedarf bei Amerikanern vergleichsweise lang.
Welche Frucht steht für uns Deutsche?
Oder: Die Kokosnuss. Unsere Schale ist hart und rau. Zum Kern – und damit im übertragenen Sinn zur „Friend Zone“ – gelangt man sehr schwer. Bis wir Privates oder Persönliches teilen, dauert es. Aus diesem Grund werden Privates und Berufliches bei uns ja übrigens auch so strikt getrennt.
Beim Früchte-Vergleich kommen wir Deutschen jetzt aber nicht gut weg …
Oder: Moment. Man muss auch sagen: Wenn du dich durch die Schale gebohrt hast, passiert es. Da ist diese leckere, warme und gleichzeitig erfrischende Kokosmilch. Wer diese erreicht, der bleibt – oft für immer. Für unsere Freunde gehen wir buchstäblich durch dick und dünn.
Klingt nach zwei ziemlich unterschiedlichen Konzepten, die Sie da beschreiben.
Oder: Eben. Das Missverständnis passiert häufig, wenn wir das Fruchtfleisch des Pfirsichs verzehren. Als Deutscher hast du das Gefühl, du bist schon in der „Friend Zone“ – was aber nicht der Fall ist. Das enttäuscht dann.
Was wollen Sie mit dem Beispiel sagen? Welches ist die qualitativ wertvollere Freundschaft?
Oder: Schauen Sie, genau das meine ich. Nichts von dem, was ich gerade gesagt habe, sollte in irgendeiner Weise wertend sein. Die deutsche und die amerikanische Kultur sind einfach sehr unterschiedlich. Auch in diesem einen Punkt: Wir Deutschen werten gern und legen uns damit fest – oft dauerhaft. Ja, mit unserem Schubladendenken verbauen wir uns so manches.
„Wir haben unseren Freunden gesagt, dass Trump in Europa ein ganz mieses Image hat“
Zwischenfrage: In welchem Zeitraum haben Sie eigentlich genau in den USA gelebt?
Oder: Von 2010 bis Ende 2015. Ich ahne, worauf Sie hinauswollen. 2016 kam Trump.
Eben. Hätte man das Politische mit den Freunden weiter ausklammern können, wenn Sie länger geblieben wären?
Oder: Tatsächlich haben wir das mit Donald Trump nach unserer Auswanderung dann schon ein paarmal thematisiert. Wir haben unseren Freunden gesagt, dass er in Europa ein ganz mieses Image hat. Wir haben aber gleichzeitig klargestellt, dass wir John für seine politische Überzeugung nicht verurteilen. Wir wussten ja, wie gesagt, dass er Republikaner ist. Bei einem unserer ersten Video-Calls hat er sogar eine ziemliche Begeisterung für den neuen Präsidenten zum Ausdruck gebracht.
Wie war das für Sie?
Oder: Ein wenig verstörend, da komplett ungewohnt. Aber etwas anderes hatte bei all dem deutlich mehr Gewicht. Als wir verkündet hatten, dass wir zurück in die Heimat gehen, hatte Kim ihren Kalender herausgeholt und vorgeschlagen, uns bis zur Rückwanderung monatlich als Familien zu treffen. Das schweißt zusammen. Ich kam bis zu ihrem Kern, wurde eine enge Vertraute.
Zurück in der Heimat folgten regelmäßige Video-Calls, und wir haben uns in beide Richtungen besucht. Kim war mit ihrer Familie zuletzt im Sommer 2023 bei uns. Da haben wir von ihr, der bekennenden Demokratin, übrigens erstmalig ein paar anerkennende Sätze zu Trump und seiner Politik gehört. Uns hat das nicht gefallen. Aber wir haben es stehen lassen.
Ich kann mir denken, dass manche das unehrlich finden oder sogar verlogen. Aber das trifft es nicht. Jeder weiß um die Sichtweise des anderen. Niemand lügt der anderen Seite irgendetwas vor. Die Sache ist die: Wir respektieren einander.
„Eine Explosion hat es tatsächlich schon gegeben“
Besteht dabei nicht die Gefahr, dass sich ganz viel anstaut und dann kommt es eines Tages zur Explosion?
Oder: Eine Explosion hat es tatsächlich schon gegeben. Vor einiger Zeit war mein Mann alleine in den Staaten und auch bei unseren Freunden zu Besuch. An einem Abend, nach dem Barbecue, kam es zu einem Streitgespräch. Kim rief mich an, meinte: „Ich musste den Raum verlassen, ich dachte, die Männer gehen sich an die Kehle.“ Auch mein Mann hat mir am Abend noch getextet, es sei „total eskaliert“ zwischen John und ihm.
Aber wissen Sie, was am nächsten Morgen war? John kam in die Küche, sah meinen Mann an und meinte: „Hey Buddy, möchtest du Pancakes? Und wie sieht’s mit Kaffee aus?“ Ganz cool. Die beiden haben dann beschlossen, in Gesprächen künftig zu stoppen, wenn sie merken, dass sie nicht auf einen Nenner kommen.
Apropos „ein Nenner“ … Die Beziehungen zwischen Deutschland und den USA gelten derzeit als angespannt.
Oder: Ganz ehrlich? Ich denke, vor allem wir Deutschen müssten uns in dieser Sache bewegen. Aus meiner Sicht haben wir in Sachen Kommunikation durchaus Lernbedarf. Und Kommunikation ist nun mal die Grundlage.
Für Politik, meinen Sie? Andererseits meinten Sie eben, im Privaten würde die Politik drüben eher ausgeklammert?
Oder: Genau. Aber am Ende bleibt Politik eine Sache zwischen Menschen. Ich bin überzeugt: Wenn es uns gelingt, uns als Freunde zu begegnen – „trotzdem“ –, werden wir auch als Nationen eher eine Ebene finden. Vielleicht nicht für finale Lösungen, aber zumindest für akzeptable Kompromisse. Hören wir auf, in diesen Ganz-oder-gar-nicht-Kategorien zu denken. Wir fragen einen Moslem doch auch nicht, warum er nicht an Jesus glaubt.
Viele fragen sich allerdings noch immer, wie jemand wie Donald Trump Präsident werden konnte. Ist Trump ein Pfirsich?
Oder: Für meinen Geschmack ist er ein fauler Pfirsich. Er stellt sich lecker dar, aber wenn man reinbeißt, schmeckt es falsch und faul … Doch es wäre verkehrt, daraus zu schließen, dass alle Pfirsiche so sind.
Jede Frucht wird irgendwann faulig.
Oder: Wenn man sie liegen lässt – das stimmt. Und genau das sollten wir nicht tun.
Die Pfirsiche liegen zu lassen?
Oder: Wenn Sie so wollen. Oder auch: Sich einer ganzen Kultur gegenüber zu verschließen beziehungsweise alle über einen Kamm zu ziehen, wie es ja gerade passiert. Wer die „Pfirsich-und-Kokosnuss“-Theorie versteht, bleibt geduldiger und passt seine Erwartungen an – und das sorgt für weniger Enttäuschung auf beiden Seiten. Finden Sie nicht?