Katjas Mann verreist - dann beginnt ein groteskes Spiel um Leben und Tod

Es ist ein lauer Sommermorgen. Schwabing erwacht langsam: Müllwagen rumpeln, ein Radfahrer klingelt, Vögel zwitschern, Sonnenstrahlen fallen auf die Dächer der Wohnsiedlungen aus den späten 1920er Jahren. Katja Martini, so erinnert sie sich heute, weht ein leichter Wind ins Gesicht, als sie ihren Mann Francesco (Name von Red. geändert) am 8. Juni 2022 verabschiedet. Sie umarmt ihn, gibt ihm einen Kuss. Er trägt ein dunkelblaues Baseball-Cap, packt den gelben Kletterrucksack in ihren weißen VW Golf und fährt los. Ziel: der italienische Ort Tre Ville.

Katja Martini ahnt nicht, dass die kommenden Tage alles verändern werden.

"Ich liebe dich“

Francesco Martini ist unterwegs zu seinem Vater Bruno. Das Verhältnis der beiden war, so berichtet Katja, seit Jahren angespannt. Der Kontakt nahezu eingeschlafen. Nun will der 43-Jährige einen neuen Versuch der Versöhnung unternehmen – bevor es zu spät ist. Außerdem plant er eine Bergtour. Francesco ist begeisterter Kletterer, kennt die Berge Norditaliens seit seiner Kindheit. Für seine Ehefrau ist das nichts Ungewöhnliches. Er geht oft allein in die Berge. In München betreibt der Bergfex eine eigene Kletterschule.

Während der Fahrt schreibt Francesco seiner Frau zahlreiche Nachrichten: Herz-Emojis, „Ich liebe dich“, kleine Updates. Katja ist arglos und glücklich. Ihr Mann wirkt gut gelaunt. Doch nach dem Treffen mit dem Vater kippt die Stimmung. Francesco verlässt das Haus des Vaters wütend. 

Bruno wird später berichten, sein Sohn sei ohne ersichtlichen Anlass vom Esstisch aufgestanden, habe die Tür laut hinter sich zugeschlagen. Eine Erklärung dafür habe er nicht. Francesco wiederum berichtet seiner Frau am Telefon von einem Streit über die Unterkunft – er habe lieber im Hotel übernachten wollen, was den Vater verärgert habe.

„Hi Schatz, ich bin in den Bergen unterwegs"

Am Morgen des 9. Juni bricht Francesco zu seiner geplanten Bergtour ins Val-Genova-Tal auf. Er kennt die Region und weiß, welche Wege sicher sind. Er versucht, Katja anzurufen und schickt ihr dann eine Sprachnachricht: „Hi Schatz, ich bin grad in den Bergen unterwegs, ich hoffe, du kriegst diese Nachricht, und wenn nicht, sobald ich dann Netz hab. Ich wollte nur Bescheid sagen, dass alles okay ist. Ich bin heute gut durchgekommen. Bin auch ganz schön weit in den Bergen unterwegs. Bin jetzt ein bisschen aus der Puste, aber alles okay, mir geht's gut. Das Wetter hält. Vielleicht treffe ich mich dann später mit meinem Vater, ich bin aber nicht so ganz sicher, wie lange ich noch in den Bergen bin. Ich denke mal, ich komme dann erst am späten Nachmittag wirklich los. Genau, bin gerade hier am Wasser, es ist echt wunderschön, frische Luft. Ich liebe dich. Es wäre schön, wenn du hier wärst.

„Dort irgendwo muss mein Mann sein. Verletzt oder tot“

Zunächst ist die 43-Jährige nicht beunruhigt, als er sich nicht mehr meldet. „Wahrscheinlich hat er kein Netz“, denkt sie sich. Als Francesco am Abend nicht wie angekündigt nach München zurückkehrt, wächst ihre Sorge. Sie versucht ihn anzurufen – vergeblich. Gegen Mitternacht alarmieren sie und Francescos Mutter die Polizei. Katja zögert nicht. Sie packt das Nötigste, nimmt den gemeinsamen Hund Milo und fährt mit ihrem Vater und seinem Bruder nach Norditalien. Seine Mutter kommt aus Sardinien angereist.

Am 10. Juni erreichen sie Carisolo. Die Suche nach ihm ist bereits in vollem Gange. Katja steht unter Schock. Sie zittert, weint, ihr Blick wandert immer wieder zu den Bergen. Sie sucht nach einem gelben Punkt. Einem Rucksack. Einem Zeichen. „Du bist vor Ort, sieht diese traumhafte Bergkulisse, diese umwerfende Natur – und denkst: Dort irgendwo muss mein Mann sein. Verletzt oder tot“, sagt sie im Gespräch.

Ein Hotelvideo zeigt Katjas Mann beim Aufbruch zur Tour. Über 100 Einsatzkräfte suchen nach ihm – mit Hunden, Drohnen, Helikoptern, Wärmebildkameras. „Alle waren mit vollem Eifer dabei. Diese Unterstützung war überwältigend“, erinnert sich Katja. Als ein Schuh gefunden wird, stockt ihr der Atem. Doch er gehört nicht ihm.

Plötzlich spürte ich Misstrauen“

72 Stunden dauert nun die Suche schon, ohne Erfolg. Katja ist erschöpft. Nachts weint sie sich in den Schlaf. Francescos Bruder wechselt deshalb das Hotel. Er konnte es selbst kaum ertragen, sagt Katja. Nach Tagen der Anteilnahme verändert sich die Stimmung. „Plötzlich spürte ich Misstrauen“, erinnert sich Katja. „Ich war kooperativ, so gut ich konnte“, sagt Katja. Die Einsatzleitung hat zunehmend Zweifel an einem Unfall in den Bergen und zeigt der Familie schließlich ein Überwachungsvideo: Ein vermummter Mann nähert sich dem weißen VW Golf, öffnet den Kofferraum, entnimmt einen Rucksack, verschwindet.

Francescos Mutter ist überzeugt: „Das ist nicht mein Sohn – zu schmal, zu klein“, erinnert sich Katja. Sie selbst ist unsicher. Warum sollte jemand einfach so einen Rucksack aus dem Auto nehmen? Es ergibt keinen Sinn. Ein mulmiges Gefühl beschleicht sie.

„Menschen haben ihr Leben riskiert"

Am 12. Juni wird die Suche eingestellt. Die Carabinieri teilen mit, dass es sich um ein freiwilliges Verschwinden handle. Ein weiteres Video zeigt ihn mit Rucksack – in einem Bus nach Trient. Auch der Busfahrer bestätigt später: Ja, es war Francesco. Die Bergretter reagieren wütend. Unruhe entsteht. Diese Nachricht trifft sie mit voller Wucht. „Ich fühlte mich wie bei einer Eiskübel-Challenge – als hätte man mir einen Eimer Eiswasser über den Kopf gegossen.“

Katja verlässt wie erstarrt den Raum. „Diese Menschen haben ihr Leben riskiert, um jemanden zu suchen, der seinen Tod inszeniert hat. Auch ich bin einer Lüge aufgesessen.“ Eine Psychologin wird ihr zur Seite gestellt. Sie gibt ihr Hinweise, wie mit dem Vertrauensbruch umzugehen ist – und rät: „Da kommt noch mehr.“

Zurück in München beginnt Katja zu recherchieren. Sie nimmt sich einen Anwalt, sucht Beratung. Am 8. Juni hebt Francesco 8.000 Euro vom gemeinsamen Konto ab. 900 Euro bleiben. Es folgen Pfändungsandrohungen. „Die Angst war erdrückend – ich wusste nicht, was auf mich zukommt.“

Das Puzzle setzt sich zusammen

Sie entdeckt Suchverläufe auf dem Laptop: „Gletscherspalten Adamello“, „Gefährlichste Abbrüche Val di Genova“, „Busfahrplan Carisolo Trento“. Auch dass er sich kurz vor der Reise die Zähne sanieren ließ, wirkt plötzlich wie ein Puzzleteil in einem größeren Plan.

Im Dezember 2022 wendet sich Francesco an die italienische TV-Sendung Chi l’ha visto?. In einem Interview erklärt er: „Ich hatte wirtschaftliche und persönliche Probleme. Ich wollte niemandem wehtun.“ Er liebe seine Frau zwar noch, aber: „So geht es ihr besser.“ Und weiter: „Ich sah keinen anderen Ausweg. Also beschloss ich, allein und unter neuer Identität zu leben.“ In seinem Scheidungsantrag bestätigt er später: Er habe seinen Tod vorgetäuscht.

Im August 2023 spürt Katja ihn in einer Kletterhalle in Bukarest auf – unter dem Namen Mauro Merli. Francesco zeigt sich distanziert, übernimmt keine Verantwortung. Der gemeinsame Kredit über rund 20.000 Euro bleibt an Katja hängen. „Ich beurteile dich nicht nach deinen Worten, sondern nach deinen Taten“, sagt sie ihm. Und: „Bezahl deine Schulden.“

Nach und nach beginnt Katja, viele frühere Beobachtungen neu zu deuten. Dass Francescos Beziehungen zu Vater und Mutter brüchig waren. Dass er aus früheren Beziehungen „buchstäblich über Nacht“ verschwunden sei. Dass er Hund und Katzen anschaffte, und plötzlich nicht mehr wollte. Dass er beruflich immer wieder neue Rollen annahm. Und dass er sich zunehmend übernahm.

Eine große Liebe?

Katja und Francesco hatten sich 2013 in der Arbeit kennengelernt. Damals war er kurz ihr Teamleiter. Danach riss der Kontakt ab – bis März 2019. Bei einer erneuten Zusammenarbeit kamen sie sich näher. „Alles ging sehr schnell, wirklich von Null auf Hundert. Er ist sofort bei mir eingezogen.“ Sie heirateten im November 2020. Heute sagt sie: „Mit seinem Verschwinden hat er mir das Schlimmste angetan, was man einem Menschen antun kann. Wir hatten einmal über seine Leidenschaft, das Klettern, gesprochen und wie schlimm es für mich wäre, wenn ihm etwas passieren würde. Er war schon mal verunglückt. Die Fotos von seinem früheren Kletterunfall – sie waren verstörend.“

Katja Martini
Katja Martini privat

War es Verzweiflung?

Warum Francesco nicht einfach ging, sondern seinen Tod inszenierte, ist schwer zu begreifen. Paartherapeut Ulrich Wilken von Myndpaar vermutet eine Panikreaktion aus emotionaler Ohnmacht. „So ein Verhalten zeigt tiefe innere Not und oft fehlen die Worte, besonders bei Trennungen. Je enger die Beziehung, desto schwerer fällt es, einen Grund zu nennen.“

Wilkens These: „Für Francesco bricht die Welt zusammen: Geldsorgen, Identitätsverlust. Lange hält er die Fassade aufrecht, doch irgendwann bröckelt sie. Panik setzt ein. Und plötzlich scheint der einzige Ausweg: Die Bühne dieses Lebens zu verlassen – um wieder Kontrolle zu gewinnen.“

Der Psychologe warnt vor schnellen Urteilen. Vieles deute darauf hin, dass Francesco nie gelernt habe, Vertrauen in dauerhafte Bindungen zu entwickeln. „Er wirkt wenig gefestigt – und versuchte offenbar, über Rückzug Kontrolle zurückzugewinnen.“ Der Streit mit dem Vater füge sich in dieses Bild. „Wenn familiäre Nähe zu emotionaler Explosion führt, steckt meist ein tiefer Konflikt dahinter. Impulsive Fluchten deuten oft auf Kindheitstraumata oder Bindungsängste hin“, so Wilken weiter.

Dass Francesco sich später im italienischen Fernsehen äußerte, passt ebenso zur These. Der Experte hält das für einen Versuch, das Geschehene zu rechtfertigen. „Er konstruiert einen Begründungszusammenhang – für sich, für die Öffentlichkeit. Das heißt nicht, dass ihm nichts an seiner Familie lag. Aber rationale Überlegungen, etwas wie sehr seine Frau oder Kinder darunter leiden, treten in der eigenen Ohnmacht in den Hintergrund.“

Auch Katjas Suche nach Antworten sei typisch. „Menschen brauchen Sinn. Aber es gibt keinen Erklärungsfaden, der sie wirklich entlastet.“ Das sei besonders schmerzhaft. „Sie fragt sich vielleicht: War ich ihm nicht wichtig genug? Doch: Es hat wenig mit ihr zu tun. Es ist seine Geschichte – und sie wiederholt sich“, sagt Wilken.

Ein neues Leben – ohne den anderen

Francesco lebt seit seinem Verschwinden in Rumänien. Beiträge in den sozialen Medien zeigen ihn in Kletterhallen, als Immobilienmakler, als lebensfrohen Menschen. Eine Anfrage von FOCUS online ließ er unbeantwortet.

Katja hat ihren Halt Schritt für Schritt zurückgewonnen. Sie arbeitet wieder Vollzeit, engagiert sich ehrenamtlich gegen emotionale Gewalt, kümmert sich um ihren Hund Milo, verbringt Zeit mit ihrer Tochter, pflegt Freundschaften. „Ich war traumatisiert – das lässt sich nicht schönreden. Jedes Mal, wenn ich die 175 Euro für seinen Kredit überweise, frage ich mich, wie ich so naiv sein konnte.“ Und doch: „So verrückt es klingt: Das Erlebte hat mir meinen Glauben an Menschlichkeit zurückgegeben. Weil ich so viel Unterstützung und Rückhalt erfahren habe.“

Drei Jahre nach Francescos Verschwinden sind die Wunden nicht verheilt. Schulden, Schmerz – und auch Wut sind geblieben. Aber ebenso der Wunsch nach innerem Frieden. „Man ist nicht auf Gedeih und Verderb aneinandergekettet“, hatte sie ihm einmal gesagt.

Heute bedeutet ihr dieser Satz mehr denn je. Nicht als Kapitulation – sondern als Akt der Selbstachtung.