Kommentar von Henning Vöpel - Harris ist gut und Trump schlecht für Europa? Das ist naiv und fatalistisch
Derzeit wirft Europa einen bangen Blick in die USA. Am 5. November entscheidet sich, ob Harris oder Trump ins Weiße Haus einzieht. Für Europa brechen aber so oder so herausfordernde Zeiten an. Denn man hat versäumt, sich ernsthaft auf eine geopolitisch völlig veränderte Welt vorzubereiten.
Eine einzige Frage überschattet derzeit alle anderen: Wird Donald Trump ins Weiße Haus zurückkehren oder Kamala Harris die erste Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika? Vieles in der Welt und für den weiteren Verlauf der Geschichte hängt von dieser Wahl ab. Für Europa aber könnten sich mit der Wahl falsche, weil trügerische Hoffnungen verbinden. Denn es sind die Amerikaner, die am 5. November wählen, nicht die Deutschen und nicht die Europäer. Und Amerika wird allein nach amerikanischen Interessen entscheiden.
Weder Trump noch Harris würde im Zweifel auf Europa Rücksicht nehmen. Der spezielle Trump-Effekt könnte darin liegen, durch erratische „Deals“ das globale Spiel zwischen den USA und China in viele einzelne Teilkonflikte zu zersplittern und so die neue Weltordnung zu einem Gleichgewicht der unkalkulierbaren Unordnung zu machen. Das würde die Welt und insbesondere Europa vor sehr komplexe Aufgaben stellen.
Unklar ist außerdem, wohin Trump die USA als größte liberale Demokratie der Welt und globale Ordnungsmacht der einstigen „pax americana“ tatsächlich führen will - mit unabschätzbaren Folgen für die NATO und den Westen. Die Zeit, in der es hieß „the West and the rest“, sind vorbei. Hörte der „Westen“ als normative Ordnung auf zu existieren, gehörte Europa angesichts des relativen ökonomischen Abstiegs zunehmend zum „Rest“.
Über Henning Vöpel

Prof. Dr. Henning Vöpel ist Vorstand der Stiftung Ordnungspolitik und Direktor des Centrums für Europäische Politik (cep). Zwischen September 2014 und Oktober 2021 war er Direktor und Geschäftsführer des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI), im Anschluss Professor für Volkswirtschaftslehre an der BSP Business and Law School.
Europa ist eine Randfigur im globalen Spiel
Das Verhältnis zwischen Europa und den USA ist stark asymmetrisch. Für Europa sind die USA bis heute die sicherheitspolitische Lebensversicherung. Für die USA ist Europa im besten Fall ein willkommener Verbündeter, aber doch zu schwach, um den USA wirklich nützlich zu sein in der Verteidigung ihrer globalen Hegemonie. Europa selbst verliert dagegen international an Bedeutung.
Der „Westen“ als normative Ordnung existiert nur noch in einem abstrakten Sinne. Das will man sich in Europa nur nicht eingestehen. Vier Themen sind für die USA entscheidend, bezeichnenderweise allesamt Themen, in denen Europa zum Teil geradezu existenzielle Schwächen aufweist:
- die Sicherheitspolitik,
- die Industrie- und Technologiepolitik,
- die Handelspolitik
- die Fiskal- und Währungspolitik
Die USA sind in ihrer Position als Weltmacht herausgefordert. Dieser Umstand bestimmt die Leitlinien der US-Politik, für die die Sicherheitspolitik immer schon wichtigster Teil ihrer Handelspolitik gewesen ist. Die USA spielen daher ein gänzlich anderes Spiel als die Europäer. Im Spiel der USA ist Europa nur eine Randfigur.
Sicherheitspolitik: Der Schutz nationaler Interessen in einer konfrontativen Welt
Der sicherheitspolitische Fokus hat sich für die USA von Mitteleuropa (als die Sowjetunion der Systemrivale war) auf den indopazifischen Raum (jetzt, wo China der Systemrivale ist) verlagert. Ob Harris oder Trump, macht in dieser Frage im Ergebnis keinen nennenswerten Unterschied.
Der Misserfolg der neoimperialistischen Aggression Russlands ist für Europas Frieden und Freiheit zentral, für die USA nur insoweit wichtig, als Russland ein möglicher Vasall Chinas ist. Die Entsendung nordkoreanischer Soldaten nach Russland dürfte dagegen die erhöhte Aufmerksamkeit der Amerikaner finden.
Der Block aus China, Russland, Iran und Nordkorea („CRINK“) ist aus dem (sehr heterogenen) globalen Süden - man beachte das Treffen der BRICS in Kasan - am stärksten gegen die USA gerichtet. Trump wird von Europa viel mehr verlangen, als es derzeit tut, um bereit zu sein, die USA in der NATO zu halten.
Vieles dreht sich um die Glaubwürdigkeit des Artikels 5 des NATO-Vertrages (Verteidigungsfall). Ein fauler „Friedensdeal“ von Trump mit Putin könnte Europa in eine historische Glaubwürdigkeits- und Identitätskrise stürzen. Bei Harris ist die außenpolitische Position weniger klar, unklarer auch als bei Biden, dem letzten Transatlantiker aus Erfahrung und Überzeugung.
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Industrie- und Technologiepolitik: Das Rennen um technologische Vormachtstellung
Das Rennen mit China um die Vormachtstellung in neuen Technologien, insbesondere der Künstlichen Intelligenz ist für die USA strategisch die vielleicht wichtigste Frage. Sie wird zu einem entscheidenden geopolitischen Machtfaktor in der hybriden, das bedeutet auch: latenten Kriegsführung des 21. Jahrhunderts. Hinzu kommt das Rennen um die Eroberung des Weltalls und seiner wirtschaftlichen und militärischen Möglichkeiten.
Hier könnte Elon Musk unter Trump eine wichtige Rolle spielen mit einer gefährlichen Verschmelzung von geradezu neofeudalistischer Macht zwischen alter politischer und neuer digitaler Sphäre. Grundsätzlich wird Industriepolitik in den USA viel strategischer, technologischer und kapitalistischer gedacht als in Europa.
Handelspolitik: Der Kampf um strategische Marktzugänge
In der Handelspolitik geht es nicht mehr bloß um die Realisierung von Handelsgewinnen. Auch hier dominiert fortan das Motiv der Beherrschung von geopolitischen Einflusssphären. Harris und Trump werden sich auch hier nicht unterscheiden. Die USA haben zwar die supranationalen Institutionen der regelbasierten multilateralen Handelsordnung bestimmt, genützt haben sie aber vor allem den Europäern.
Die USA selbst sind zwar eine offene Volkswirtschaft, aber doch mit einer deutlich geringeren Bedeutung des internationalen Handels für die nationale Wohlfahrt. Für die USA ging es immer, und jetzt umso mehr, um die vor allem geostrategische Frage der Vermeidung von Abhängigkeiten und des ungehinderten Zugangs zu Märkten.
Fiskal- und Währungspolitik: Die Gefahr einer globalen Finanzkrise
Zentral für die weltwirtschaftliche Dominanz der USA ist die Rolle des US-Dollar als wichtigste internationale Reservewährung. Sie sichert den USA zusätzliche Verschuldungsspielräume und den wichtigsten globalen Anleihemarkt, allerdings zu Kosten eines chronischen Leistungsbilanzdefizits. Eine gezielte „De-Dollarisierung“, betrieben durch China und andere Länder, soll den Dollar als führende Weltwährung ablösen.
Das birgt große Risiken für die Stabilität der internationalen Finanzmärkte. Fast alle großen Weltwirtschaftskrisen haben ihren Ausgang in den USA genommen, so wie 1929 und 2008. Droht also, zusätzlich verschärft durch weltweit stark ansteigende Schuldenquoten, die nächste globale Finanzkrise vielleicht schon in den kommenden Jahren – ausgehend von den USA?
Trump würde mit seinen Importzöllen und Attacken auf die Unabhängigkeit der Fed dazu wohl mehr beitragen als Harris, die mit ihrem ausgabenfreudigen Wirtschaftsprogramm die Verschuldung der USA aber ebenfalls weiter in Richtung stabilitätskritischer Höhen treiben würde.
Europa kann nur noch zuschauen
Allein der Blick auf diese vier Politikfelder macht deutlich, wie weit Europa geopolitisch davon entfernt ist, ein vergleichbares Spiel wie die USA zu spielen. Dafür fehlt es Europa an eigener Souveränität. Ob Harris oder Trump, die einzige Strategie, die Europa aus der momentanen Position der Schwäche heraus überhaupt verfolgen kann, besteht darin, das Defizit an Souveränität, resultierend aus dem enormen Rückstand bei Sicherheit und Technologie, nach außen durch Allianzen und Kooperationen, nach innen durch eine Stärkung des Binnenmarktes auszugleichen.
In einer Welt der Verhandlung nationaler Interessen wird es besonders für Europa, dessen Modell auf politischen Kompromissen und wirtschaftlicher Kooperation beruht, ungemütlich. Ja, die Renationalisierung hat Europa mittlerweile selbst erreicht. Die multipolare Welt definiert somit nicht nur das Außenverhältnis Europas neu, sondern zwingt es dazu, auch nach innen neue Wege zu gehen.
Vieles hängt für Europa bereits jetzt am seidenen Faden. Die vielen geopolitischen Krisen der Gegenwart sind kaskadenartig miteinander verbunden: Ukraine, China, Nahost, Migration, Energie. Es ist wichtig, auch für den worst case einen Plan zu haben. Fällt ein Stein, könnte dies einen Dominoeffekt auslösen, an dessen Ende Europa schwer beschädigt und destabilisiert wäre.
Bei Harris wäre der Prozess eher schleichend. Trump könnte binnen Wochen Europa in eine schwere politische und institutionelle Krise stürzen. Die Vermutung aber, dass es im Falle von Harris gut und im Falle von Trump schlecht für Europa ausginge, wäre naiv und fatalistisch. Hoffnung ist keine Strategie.
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