„Potenziell eskalierend“: Biden-Regierung zieht ihre Lehren aus dem Ukraine-Krieg
„Potenziell eskalierend“: Biden-Regierung zieht ihre Lehren aus dem Ukraine-Krieg
Übergewichtige Panzer, reichweitenschwache Artillerie und Angst vor Putins Aggressivität: Die USA unter Joe Biden suchen ihre Position als Weltmacht.
Washington, D.C. – „Ausgehend von der Ukraine, gibt es keinen Mangel an Beobachtungen, über die wir nachdenken sollten‘“, sagte James Rainey, wie ihn das Magazin Defense News zitiert. Der General leitet das Army Futures Command, die für die Modernisierung der Streitkräfte zuständige Abteilung der US-Armee. Auch das Magazin Politico nennt Stimmen, die den Einsatz US-amerikanischer Waffen gegen Wladimir Putin auf dessen eigenem Territorium als „Wert“ betrachten. Der erste große Landkrieg auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg ist die Generalprobe für den nächsten – möglicherweise noch größeren. Die USA suchen nach ihrer künftigen Rolle als Weltmacht.
„Ein hochrangiger US-Militär-Offizieller erklärte den Parlamentariern Anfang Mai, dass eine Lockerung der Beschränkungen für den Einsatz amerikanischer Waffen durch die Ukraine auf russischem Territorium ‚militärisch sinnvoll‘ sei, so zwei Teilnehmer des Treffens“, berichtet Politico. Laut der Washington Post ermächtigt US-Präsident Joe Biden ab sofort ukrainische Kommandeure, „‚gegen russische Streitkräfte zurückzuschlagen, die sie angreifen oder einen Angriff vorbereiten‘ in und um Charkiw, nahe der Grenze im Nordosten der Ukraine“ wie die Post schreibt.
„Obwohl die Armeeführung die Notwendigkeit anerkannt hat, die Widerstandsfähigkeit der Truppe wiederherzustellen, wurden bisher nur sehr geringe konkrete Fortschritte erzielt. Bereits 2016 argumentierten wir, die Armee müsse üben, wie Einheiten nach verheerenden Verlusten wieder aufgebaut und die Widerstandsfähigkeit derjenigen verbessert werden können, die unter derart schwierigen Bedingungen weiterkämpfen müssen.“
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte zunehmend vehementer auf diesen Richtungswechsel gedrängt. Auch immer mehr US-amerikanische sowie westliche Politiker hatten diesen Schritt eingefordert, um Russland durch Stillhalten keine Optionen im Norden mehr zu eröffnen. Westlichen Militärs war immer offensichtlicher geworden, dass Putins Truppen Raketenangriffe von außerhalb der Reichweite der ukrainischen Luftabwehr durchführen und infanteristische Vorstöße vorbereiten beziehungsweise unterstützen. Das Dilemma zieht sich seit mehreren Wochen hin.
Die Moral der ukrainischen Landesverteidiger sei dadurch extrem gesunken, führt die Post an, „und der Mangel an ausgebildeten Soldaten bedeutet, dass die Frontlinien trotz der Wiederaufnahme der US-Militärhilfe immer noch verwundbar sind“, schreibt sie. Der Kampfgeist aber sei der entscheidende Faktor, um einen Krieg zumindest offenzuhalten, sagte bereits nach dem ersten Kriegsjahr Stephen Biddle gegenüber dem ZDF. Der US-Verteidigungsexperte erinnerte damit an den Kardinalfehler, den viele Schlachtenlenker über die Jahrhunderte hinweg begangen haben: ihren Gegner zu unterschätzen.
US-Militär: Ukraine-Krieg hat die Modernisierung dynamisiert – USA hinterfragt Entscheidungen
Bereits nach dem ersten halben Jahr des Ukraine-Krieges mit seinen horrenden Verlusten wagte das Magazin War on the Rocks Kritik an der Durchhaltefähigkeit der US-Truppen im Falle eines bewaffneten Konflikts: „Obwohl die Armeeführung die Notwendigkeit anerkannt hat, die Widerstandsfähigkeit der Truppe wiederherzustellen, wurden bisher nur sehr geringe konkrete Fortschritte erzielt. Bereits 2016 argumentierten wir, die Armee müsse üben, wie Einheiten nach verheerenden Verlusten wieder aufgebaut und die Widerstandsfähigkeit derjenigen verbessert werden können, die unter derart schwierigen Bedingungen weiterkämpfen müssen“, schrieben David Barno und Nora Bensahel.
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Defense News berichtet davon, dass der Ukraine-Krieg gerade die US-Armee in ihrer Zukunftsplanung dynamisiert habe – „von der Beschaffung über die Gliederung von Formationen bis hin zur Neugestaltung der Logistik: Die Armee hat bereits ihre Pläne zur Modernisierung von Panzern überdacht und ihre Strategien im Umgang mit Drohnen geändert.“ Die USA hinterfragen seit Beginn des Ukraine-Krieges ihre Haltung zu Panzern, zu Hubschraubern, zu Artillerie – und ihre Haltung zu selbst gesetzten „roten Linien“. Reichweite scheint aktuell der bestimmte Faktor in der Diskussion zu sein: die Reichweite politischer Entscheidungen und die Reichweite der Ausrüstung, beispielsweise die der Artillerie, wie Defense Express ausführt.
US-Militär: Entwicklung neuer Munition vernünftiger als der Bau neuer Kanonen
Das Magazin zitierte bereits im September vergangenen Jahres Doug Bush dahingehend, „dass die Feuerstrategie wichtige Entscheidungen in seinem Ressort beeinflussen werde, darunter auch die Frage, wie der Bedarf an Kanonenartillerie mit erweiterter Reichweite gedeckt werden solle“, wie der für die Beschaffung der US-Armee Verantwortliche erläutert – er verweist auf die Komplexität dieser Themen: „Wo braucht man gezogene Artillerie, wo braucht man vielleicht Ketten- oder Radfahrzeuge? Was kann man mit Munition tun, um Reichweite zu erzielen, anstatt neue Kanonen zu bauen?“
Reichweite ist auch der zentrale Streitpunkt der Biden-Entscheidung: „Ob die Ukraine sämtliche vom Westen gelieferten Waffen auch für Angriffe auf militärische Ziele in Russland nutzen können sollte, wird derzeit unter Nato-Staaten kontrovers diskutiert“, schreibt aktuell die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Und auch Politico sieht immer noch einen Dissens in den USA – nicht mehr entlang der politischen Lager, sondern zwischen Militärs und Politikern – das Magazin zitiert einen anonymen demokratischen Abgeordneten dahingehend, zwischen Geheimdienstlern und Militärs bestünde „Konsens“ darüber, dass „es einen echten militärischen Nutzen hätte, der Ukraine Angriffe auf Ziele jenseits der russischen Grenze zu erlauben“. Dem Informanten zufolge sei die zivile Führung des Verteidigungsministeriums jedoch „risikoscheuer“, schreibt Politico.
US-Militär: Westen lernt mehr von der Ukraine, als die Ukraine vom Westen lernen kann
Tatsächlich steht die Welt an der Schwelle eines globalen Konflikts – die Washington Post wiederholte Wladimir Putins jüngste Warnung, ein weiteres Eingreifen des Westens könne zu „ernsthaften Konsequenzen“ führen – beispielsweise zu Russlands Angriff auf kleine europäische Länder mit Atomwaffen, „wenn die Nato der Ukraine erlaubte, tief in russisches Territorium hinein anzugreifen“. Die Post wartet auf mit weiteren Maßnahmen des Westens, die auf Putin potenziell eskalierend wirken könnten – beispielsweise die Entsendung von Nato-Soldaten in die Ukraine als Ausbilder.
Letztendlich lernen die westlichen Mächte über den Krieg mehr durch die Ukraine, als umgekehrt die Ukrainer über den Krieg vom Westen – der hat als Auseinandersetzung mit Russland höchstens Stellvertreterkriege kennengelernt. Auch die Ausbildung der ukrainischen Panzerfahrer hat Russland nur aufhalten und nicht niederhalten können, weil vor allem die Panzer für einen anderen Krieg gebaut worden waren – was beispielsweise auch für den britischen Challenger gilt oder den deutschen Leopard. „Wenn heute ein Panzer im Kampf kaputtgeht oder getroffen wird, sind zwei Bergungsfahrzeuge nötig, um ihn aus dem Kampf zu ziehen“, sagte Glenn Dean schon vor längerer Zeit den Defense News über die amerikanische „Wunderwaffe“ M1A1 Abrams. Der Generalmajor ist Programmleiter der US-Armee für Bodenkampfsysteme und plädiert für eine Neukonstruktion des Panzers als Waffensystem oder mindestens für dessen Nachrüstung von innen heraus.
US-Militär: Putin beweist dem Westen, dass Challenger und Abrams aus der Zeit gefallen sind
Er forderte, den „logistischen Fußabdruck“ des Abrams zu verringern – Ziel ist auch hier die Steigerung der Reichweite: in der Mobilität und der Fähigkeit, Gefechte unbeschadet zu überstehen. Den Panzer der Zukunft bedrohen künftig Infanteristen mit schultergestützten Lenkwaffen und vor allem ferngelenkte Drohnen – in noch fernerer Zukunft wahrscheinlich selbst entscheidende Drohnen –, die dem Panzer auf den Turm stürzen. Auch die Kommandostrukturen werden sich straffen müssen – ein Kommunikationsknoten wird viele vernetzte Waffen steuern und Bedrohungen aus seiner noch größeren Reichweite erkennen und eliminieren müssen. Der Krieg wird schneller, als die einzelnen Soldaten denken und Politiker entscheiden können.
Bisher versuchen die USA und die Nato, die Konsequenzen des meist aufeinander abgestimmten Verhaltens auf das gesamte Bündnis zu begrenzen, wie die Washington Post nahelegt. Demnach betonen Nato-Diplomaten, „dass jegliche Ausbildung auf bilateraler Ebene zwischen den Mitgliedsstaaten und der Ukraine organisiert werden würde und nicht von der Nato selbst, die offiziell Distanz zum Krieg wahrt“, schreibt das Blatt.
Die Post betont in dem Zusammenhang nochmals die Weigerung Joe Bidens, eigenes Personal der US-Armee in die Ausbildung der Ukrainer vor Ort zu verstricken; allerdings stellt sie infrage, wie lange diese Entscheidung für die US-Regierung an Wert behält: „Ob dieses Verbot wie seine anderen roten Linien auf der Strecke bleibt, bleibt abzuwarten.“ (Karsten Hinzmann)
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