Steigende Gewalt an Schulen in Deutschland: Ämter legen besorgniserregende Zahlen vor
Messerattacken und versuchter Mord: In den vergangenen Wochen kam es wiederholt zu größeren Polizei-Einsätzen an Schulen. Besonders Berlin scheint ein Brennpunkt.
Berlin – In der Nähe von Stuttgart prügeln Jugendliche einen Mitschüler (14) ins Krankenhaus, in Sankt Leon-Rot sticht ein 18-Jähriger auf eine gleichaltrige Schülerin ein, sie überlebt die Attacke nicht. Gleiches Schicksal erleidet ein Jugendlicher, dessen 15-jähriger Mitschüler ihm in den Kopf schießt. Alles geschah in den vergangenen Monaten, alles an deutschen Schulen. Nimmt die Gewalt auf Schulhöfen und Klassenzimmern zu?
Auswertungen der Landeskriminalämter und Bildungsministerien lassen diesen Schluss jedenfalls zu. Gleich in mehreren Bundesländern sei demnach die Zahl erfasster Gewaltdelikte im Vergleich zu der Vor-Corona-Zeit gestiegen – mitunter deutlich. Ein Experte widerspricht der Schlussfolgerung. Nicht die Gewalt habe zugenommen, sondern die Berichterstattung darüber.
Fälle von Gewalt: Zu fünf Einsätzen pro Schultag müssen Polizei-Beamte in Berlin
Den Behörden wurden tausende solcher Delikte in den Schulen der verschiedenen Bundesländer gemeldet, schreibt die Deutsche Presse-Agentur. Vor allem in denen mit dichten Ballungsgebieten seien die Zahlen hoch. Um fast die Hälfte sind laut der Statistik des Landesinnenministeriums die gemeldeten Gewalt- und Missbrauchsfälle in Nordrhein-Westfalen von 2019 zu 2022 gestiegen. In 2022 seien es alleine in NRW 5400 Vorfälle gewesen.

Noch drastischer sehen die Zahlen aus Berlin aus: Dort muss die Polizei statistisch gesehen an jedem Schultag zu mindestens fünf Einsätzen ausrücken. Das Ministerium registrierte 6113 Straftaten im Jahr 2022, davon handele es sich in 2344 Fällen um Körperverletzung. Neuere Zahlen liegen den Ämtern nur teilweise vor, für 2023 sei an den Berliner Schulen aber eine „erneute deutliche Steigerung der Fallzahlen“ zu verzeichnen. Demnach kam es zu 1076 Polizeieinsätzen.
Das sind die gemeldeten Zahlen der einzelnen Bundesländer für 2022:
- Baden-Württemberg: 2243 Gewaltfälle.
- Sachsen: 1976 Gewaltfälle.
- Bayern: 1674 Fälle vorsätzlicher leichter Körperverletzung.
- Brandenburg: 910 sogenannter Rohheitsdelikte (gefährliche sowie einfache Körperverletzung, Erpressung, Bedrohung).
- Thüringen: 321 Fälle von Körperverletzung.
- Niedersachsen: 520 Fälle Rohheitsdelikte und Straftaten.
- Rheinland-Pfalz: 3300 Fälle von Gewalt.
- Hamburg: 261 Fälle von Gewalt.
- Schleswig-Holstein: 255 Fälle von Gewalt.
Quelle: dpa, Bild.de
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Die Schwere der Delikte variiert. Um welche Art von Gewalt es sich handelt, ist nicht immer angegeben. Für Hessen, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und dem Saarland liegen den Kultus- und Bildungsministerien der Bundesländer keine Daten für 2022 vor. Zu tödlichen Vorfällen kommt es der Statistik nach aber selten.
„Mehr Waffen in der Schule als früher“: Messer, Steine, Schusswaffen – die Gewalt an Schulen
Nach Einschätzung des Allgemeinen Schulleitungsverbandes Deutschlands haben viele Lehrkräfte das Gefühl, dass die Bereitschaft zur Gewalt zugenommen hat. „Wir haben bemerkt, dass mehr Waffen zur Schule mitgenommen werden als früher“, sagte der Verbandsvorsitzende Sven Winkler. Dabei handele es sich vor allem um Messer und sogenannte Anscheinswaffen, also solche, die echten Schusswaffen täuschend ähnlich sehen. In vielen Fällen seien auch Feuerzeuge eingesetzt worden, in anderen Steine.
Meldungen aus der jüngeren Vergangenheit zeigen, dass die Gewalt nicht nur unter den Schülern stattfindet, sondern auch zwischen Lehrkräfte und Schülern. Vor einigen Wochen machte ein Lehrer Schlagzeile, der gegenüber einem Grundschüler handgreiflich geworden sein soll. Kurz nach Kriegsausbruch im Nahen Osten flogen zwischen einem Lehrer und einem Jugendlichen die Fäuste; den Streik ausgelöst hatte wohl eine Palästina-Flagge. In einer Hamburger Schule bedrohten Kinder ihre Lehrerin mit einer Waffe.
Wie kommt es zu der Gewalt an Schulen? Experte vermutet unter anderem geringes Selbstwertgefühl
Warum es zu zunehmender Gewalt und mitunter regelrechten Exzessen zwischen Kindern und Jugendlichen kommt, beschäftigte Experten besonders nach dem erschreckenden Fall Luise in Freudenberg. Auch dabei wurden Gewaltprobleme in der Schule vermutet. Nach Einschätzung des Brandenburger Bildungsministeriums seien die Gründe dafür vielschichtig.

„Defizite in der Selbststeuerung und geringes Selbstwertgefühl“ könnten demnach ausschlaggebend sein. „Aber auch familiäre und soziale Ursachen wie Gewalterfahrungen in der Familie oder Akzeptanz sowie soziale Normen und Werte und die jeweilige Akzeptanz in der Gruppe der Gleichaltrigen“ spielten dabei in die Thematik hinein. Gewaltinhalte in Medien und auf Online-Plattformen könnten ebenfalls aggressives Verhalten auslösen.
Die Zahlen dürften jedoch nicht falsch interpretiert werden, mahnte Entwicklungspsychologe Herbert Scheithauer zuletzt. Gegenüber dem Spiegel sagte er, es gebe weniger Gewaltvorfälle auf Schulhöfen als vor 15 oder 20 Jahren. Die Taten werden nach seiner Ansicht lediglich intensiver wahrgenommen, weil auch Medien mehr darüber berichteten. Vonseiten der Schule oder der Polizei werden solche Vorfälle jedoch selten der Öffentlichkeit und den Medien mitgeteilt. (rku/dpa)