Grünen-Politiker Özdemir fordert harten Türkei-Kurs: „Erdogan ist ein Scheinriese“

Herr Özdemir, warum haben die EU und Deutschland so verhalten auf die neue Repression Erdoğans reagiert?

Es ist wohl eine Folge der geopolitischen Lage, in der wir uns befinden. Die Türkei ist in dieser Hinsicht ein wichtiges Land, Teil der NATO. Erdoğan weiß das. Er setzt darauf, dass wir wegschauen oder schnell zum business as usual zurückkehren. Daher ist es wichtig, ihm zu zeigen, dass wir solidarisch sind mit dem Teil der Türkei, der sich zu Europa, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten bekennt. Es geht hier für Europa auch darum, wie wir es mit unseren eigenen Werten halten.

Da hat die EU in vielen Beispielen keine gute Figur gemacht…

Wir haben Bündnispartner und Wertepartner auch schon enttäuscht. Wir haben beispielsweise Armenien im Stich gelassen, als Aserbaidschan dort schlimmste Verbrechen begangen hat. Anderes Beispiel: Kosovo orientiert sich nach Westen, Serbien destabilisiert und wir leben eine Art Äquidistanz zwischen beiden Ländern vor. Vor diesem Hintergrund geht Erdogan wahrscheinlich davon aus, dass wir bald zum Alltag zurückkehren.

„Erdoğan hat Angst vor der nächsten Präsidentschaftswahl“

Handelt Europa zu nachsichtig, weil es Erdoğan braucht?

Wir haben ein Interesse an einer engen Partnerschaft mit der Türkei, aber bitte keine Naivität im Umgang mit Autokratien. Erdoğan hat Angst vor der nächsten Präsidentschaftswahl – selbst wenn die Wahlen unfair sind. Er ist ein Scheinriese, der sich in der Türkei vor starken Konkurrenten wie Ekrem İmamoğlu fürchtet, die für eine pluralistische Gesellschaft stehen. Die Türkei möchte Mitglied der EU werden. Da können wir nicht einfach zu schauen, wenn sie sich immer weiter von der Demokratie entfernt.

Was bedeutet das für unsere Türkei-Politik? 

Kooperation und klare Kritik – wir brauchen beides, sonst machen wir uns unglaubwürdig. Erdoğan ist kein verlässlicher Partner. In Europa vergessen wir, dass er auch uns braucht. Wir sind ein wichtiger Absatzmarkt für die Türkei, es gibt eine enge wirtschaftliche Verflechtung. Wir sollten nicht so tun, als seien wir Bittsteller. Wir müssen mehr differenzieren zwischen den Menschen in der Türkei und Erdoğan. Ich höre immer häufiger von Fällen etwa von Musikbands, die kein Visum mehr für Europa erhalten. Visa-Erleichterungen für Studierende, Wissenschaftler, Unternehmer oder Kulturschaffende wären ein Signal an diejenigen, die für Freiheit und Rechtsstaat in der Türkei kämpfen. Aber auf der anderen Seite müssen wir sehr klar sein: Eine EU-Mitgliedschaft wird es unter Erdoğan nicht geben. Und auch keine Erweiterung der Zollunion.  

Braucht es sowas wie Sanktionen gegen die Türkei?

Wir sollten nichts ausschließen und unnötig Schwäche zeigen. Wir müssen aus den Fehlern lernen, die wir gemacht haben im Umgang mit Putin. Wir können aber auch in unserem eigenen Land einiges besser machen! Ich habe schon in der vorletzten Legislaturperiode gefordert, die türkisch-rechtsextremistischen Grauen Wölfe zu verbieten. Da ist bis heute nichts passiert. Das gilt auch für gleichgeschaltete Moscheen und Erdoğans Unterwanderungsversuche in deutsche Parteien. Wir sind hier und da leider naiv.

„In Deutschland leben und Erdoğan wählen“

Gerade bei den Deutsch-Türken ist der Zuspruch groß für Erdogan. Was sagen Sie ihnen?

Viele Türkeistämmige in Deutschland besorgt sehr, was in der Türkei passiert. Das sollten wir nicht vergessen. Was Erdoğans Unterstützer angeht, frage ich mich, wie sie das unter einen Hut bekommen: In Deutschland leben und Erdoğan wählen – und dabei aus der Ferne zuschauen, wie sich die Türkei in ein offenes Gefängnis verwandelt, während man sich hier auf den Rechtsstaat verlassen kann. Da ist viel Scheinheiligkeit im Spiel.

Die USA sind als verlässlicher Partner durch Trump weggefallen. Umso wichtiger wird die Türkei für uns in militärischen Fragen. Wie viel Druck kann man auf Erdoğan ausüben, wenn man auch abhängig ist von der Türkei?

Erdoğans Dialogprozess mit dem PKK-Führer Öcalan vor wenigen Wochen wurde in Deutschland vorschnell gefeiert. Es war der Versuch, die Kurden für sich zu gewinnen und sie von den Oppositionsparteien zu trennen. Wir sollten nicht auf diese Manöver hereinfallen. Die Türkei ist unser Partner, uns verbindet viel, auch gemeinsame Interessen. Aber wir müssen auch deutlich machen, dass unsere Solidarität den mutigen Menschen auf den Straßen gehört.

Haben Sie noch irgendeine Hoffnung für dieses Land unter Erdoğan?

Erdoğan musste früher nicht betrügen, um Wahlen zu gewinnen. Irgendwann hat er dafür gesorgt, dass die Medien gleichgeschaltet wurden und dass Wahlen unfair wurden. Aber immerhin gab es noch Wahlen und es gab auch Oppositionskandidaten. Jetzt fürchtet Erdogan, dass er eine Wahl selbst dann nicht mehr gewinnen kann, wenn er sie massiv manipuliert und die Opposition ausschließt. Erdoğan ist nicht so stark, wie wir ihn machen. Erdoğan hat Angst vor der Opposition. Viele in der Türkei halten es für möglich, dass 2028 ein anderer Kandidat die Wahl gewinnt.

Trauen Sie dem wahrscheinlich nächsten Bundeskanzler Friedrich Merz zu, Erdoğan entgegenzutreten?

Man steht politisch immer wieder vor Zielkonflikten, gerade auf der internationalen Ebene. Herr Merz weiß hoffentlich selbst, welche Erwartungen auf ihn gerade projiziert werden. Die USA sind als verlässlicher Partner weggefallen, jetzt kommt es auf Deutschland an. Wir müssen Führung in Europa übernehmen. Es braucht eine robuste Sprache und Haltung.