Serie „So geht es Deutschland wirklich“ - „Bürgergeld hilft, Flexibilität fehlt“: Ukrainerin kritisiert Integrationshürden in Deutschland

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FOCUS online/Wochit „Bürgergeld hilft, Flexibilität fehlt“: Ukrainerin kritisiert Integrationshürden in Deutschland
Montag, 16.12.2024, 07:05

Hunderttausende Ukrainer leben mittlerweile bei uns. Anastasia Khomchuk und ihre Familie wollen sich unbedingt hier eine Zukunft aufbauen, mit anpacken. Doch dabei werden ihnen viele Steine in den Weg gelegt. Khomchuk sagt deshalb unter anderem: „Das Bürgergeld ist gut, aber Deutschland muss flexibler werden.“

Ein weiterer Meilenstein ist bald erreicht. Nachdem Anastasia Khomchuk und ihr Ehemann ihre B1-Sprachzertifikat abgelegt haben, bereiten sie sich nun auf die B2-Prüfung vor. „Für mich ist das sehr gut. Der Kurs hilft mir, mich zu integrieren“, freut sich die 38-jährige Ukrainerin, die seit etwas mehr als zwei Jahren in Bremen lebt. Trotzdem gelingt der Neustart in Deutschland für die Familie nur langsam und holprig.

Ukrainer in Deutschland: Mobbing gegen Kinder

Damit sind gar nicht nur die alltäglichen Herausforderungen einer Mutter von drei Kindern gemeint, die selbst noch dabei ist die Sprache zu lernen und das System zu verstehen. Für die dreijährige Tochter muss Khomchuk nun einen Kindergartenplatz suchen, für den neunjährigen Sohn eine weiterführende Schule. Als großes Problem für ukrainische Kinder, auch ihre eigenen, nennt Khomchuk hier zudem Mobbing; insbesondere durch Kinder von Migranten, die früher als sie nach Deutschland gekommen seien.

Serie: "So geht es Deutschland wirklich"

Viele Menschen klagen, die aktuelle Politik gehe an ihrer Lebenswirklichkeit vorbei. Doch was wünschen sie sich? Wie geht es ihnen? FOCUS-online-Reporter reisen drei Monate durch Deutschland und fangen die Stimmung ein – für eine Serie mit 101 Folgen.

 

Auch der älteste Sohn benötigt zu Beginn der Pubertät erhöhte Aufmerksamkeit und Unterstützung etwa bei der Suche nach Praktikumsplätzen. „Parallel muss ich Deutsch lernen, Arbeit suchen, Geld verdienen, hunderte Briefe schreiben und alle Probleme lösen“, beschreibt sie ihren Alltag. Letzteres betrifft etwa Arzttermine für die Kinder. „Ich suche schon seit drei Monaten einen Dermatologen, keiner nimmt noch Patienten auf“, beklagt sie und befürchtet, dass sie die Behandlung privat finanzieren muss.

Indes versucht Khomchuk, sich selbst eine Zukunft in Bremen aufzubauen. „Ich will mich integrieren“, betont sie. In einem Bürgerzentrum betreut sie einmal wöchentlich eine Gruppe ukrainischer Kinder, bastelt mit ihnen und übt deutsche Gedichte und Lieder. Zudem besucht einmal wöchentlich eine Zelt-Sammelunterkunft für Flüchtlinge verschiedener Nationen. Als Kinderlotsin bei SOS Kinderdorf hat sie in der Hansestadt zudem einen Minijob gefunden, der ihr rund 200 Euro einbringt.

Qualifikation wird nicht anerkannt

Ihre berufliche Integration stockt trotzdem, erzählt die 38-Jährige. In der Ukraine hat Khomchuk in Kupjansk als praktische Psychologin gearbeitet. Nach rund sechsmonatiger russischer Besetzung gelang der Ukraine bei der Gegenoffensive ab Ende August 2022 die Rückeroberung – die Familie entschied sich, ihre Heimat zu verlassen, die einmal mehr akut bedroht ist. Aufgrund einer Ausnahmereglung für Väter von drei Kinder durfte ihr Ehemann trotz der Generalmobilmachung mit nach Deutschland.

Als praktische Psychologin kann Khomchuk in Bremen allerdings noch nicht arbeiten. Allein sieben Monate hat sie darauf gewartet, dass ihr Diplom anerkannt wird. Ihre Qualifikation in werde in Deutschland jedoch nicht  vollwertig anerkannt, dafür müsste noch einmal zwei Jahre studieren. „Ich verstehe, dass das System anders ist. Aber ich habe keine zwei Jahre Zeit“, sagt die 38-Jährige mit Blick auf ihre familiären Verpflichtungen.

Ihr Mann, gelernter Schweißer, habe ebenfalls noch keine Arbeit gefunden. „Er hat viele Bewerbungen geschickt, aber er bekommt keine Antwort“, wundert sich Khomchuk. Dabei habe der hilfsbereite Berater im Jobcenter viele Gesuche vermittelt und versichert, dass er mit Sprachkenntnissen einen guten Arbeitsplatz finden würde. Auf die Vorschläge hin hätten sie bereits zahlreiche Bewerbungen verschickt. Nur antworteten die Unternehmen oft gar nicht.

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FOCUS online schickt in den kommenden Wochen Reporter quer durch Deutschland, um die aktuelle Stimmung einzufangen. Auch Sie können uns schildern, was sie bewegt, was sie ärgert, was sich ändern sollte. Schreiben Sie an mein-bericht@focus.de

 

So ist das Ehepaar weiterhin auf das Bürgergeld und Khomchuks Minijob angewiesen. Nach Abzug der Miete blieben der fünfköpfigen Familie rund 1700 Euro zum Leben, rechnet die Mutter vor. „Meistens reicht es, aber nicht immer“, merkt sie an und zeigt sich dankbar für die Unterstützung. In der Ukraine wäre es ihr nicht möglich, zu lernen und finanziell abgesichert zu sein. Mit der Tafel lasse sich beim Einkauf Geld sparen, über die Kulturtafel könne die Familie auch am kulturellen Leben teilhaben. Dadurch könne sie der Tochter frühkindliche musikalische Erziehung oder dem Sohn ein Ferienprogramm ermöglichen. Aktuell lebt die Familie in einer Zwei-Zimmer-Wohnung auf 50 Quadratmetern. „Mein Sohn braucht ein Zimmer für sich“, hofft Khomchuk, bald etwas Größeres zu finden und schiebt hinterher: „Wenn mein Mann einen vernünftigen Job findet, ist das kein Problem.“  

„Bürgergeld ist gut, aber Deutschland muss flexibler werden“

Angesichts der Fülle an alltäglichen Aufgaben habe sie kaum eine Möglichkeit, sich mit der deutschen Politik zu beschäftigen. „Politik ist das letzte, woran ich denken kann“, sagt die 38-Jährige, auch wenn ihr das eigentlich wichtig sei. Selbstverständlich wünscht sie sich auch, dass der Krieg in ihrer Heimat schnell endet und nicht noch mehr Menschen sterben müssen. „Russlands Aggression muss mit allen Mitteln gestoppt werden“, wünscht sie sich eine stärkere Unterstützung für die Ukraine. Die Kriegsverbrechen sollten von einem internationalen Tribunal aufgearbeitet und bestraft werden.  

Im Alltag in Bremen habe sie indes eigene Probleme zu lösen: „Ich muss mein Leben erst einmal so organisieren, dass meine Kinder eine gute Zukunft haben“, sagt sie und schiebt nach einer kurzen Pause hinterher: „Und ich auch.“ Aus ihrer Erfahrung der vergangenen zwei Jahre in Deutschland wirbt Khomchuk deshalb vor allem für weniger Hürden bei der Integration. „Das Bürgergeld ist gut und hilft. Aber in anderen Bereichen muss Deutschland flexibler werden“, so ihr Fazit.  

Zugezogene bräuchten einen Ansprechpartner, der das System versteht und die Menschen beim Ankommen unterstützt. Sei es, sich durch das Online-Kitaportal zu klicken, einen Arzt zu finden oder eine Anerkennung für die eigenen Qualifikationen zu erhalten. „Mein Kopf explodiert“, sagt sie angesichts der überbordenden Bürokratie. Als Mutter und aktive Frau bewahre sie sich trotzdem ihren Optimismus.