Im 19. Jahrhundert verlor China riesige Gebiete an Russland. Seitdem werden in der Volksrepublik immer wieder Forderungen laut, das Land zurückzuholen.
„Russland ist ein Scheißland“, wettert der Nutzer mit dem Namen Jisuanzhang und fordert: „Unterstützt die Ukraine!“ Mehr als 5000 Likes gab es dafür auf Weibo, dem chinesischen Pendant zu X. So viel Wut auf Russland bricht sich selten Bahn in Chinas streng zensierten sozialen Netzwerken.
Schließlich verbindet Chinas Staatschef Xi Jinping eine enge Freundschaft mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, allein im vergangenen Jahr haben sich die beiden dreimal persönlich getroffen. China unterstützt zudem Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine nach Kräften, nicht nur diplomatisch, sondern auch mit sogenannten Dual-Use-Gütern, die zivil und militärisch genutzt werden können.
Was den Weibo-Nutzer so erzürnte, ist aber nicht nur Russlands Rolle im Ukraine-Krieg. „Auch wir sind Opfer einer territorialen Aggression durch Russland“, schreibt er: Das Nachbarland halte „bis heute mindestens 1,5 Millionen Quadratkilometer“ chinesischen Staatsgebiets besetzt.
Kritik an Russland ist auch in China möglich – zumindest ein bisschen
Posts wie dieser finden sich immer wieder auf Weibo. Nicht, weil Chinas Staatszensoren sich heimlich auf die Seite der Ukraine geschlagen hätten. Aber ein bisschen Kritik an Russland, gepaart mit einer Portion Nationalismus – das ist auch im China von Xi Jinping in Ordnung. Denn die Überzeugung, dass der große Nachbar im Norden Gebiete besetzt halte, die eigentlich chinesischen seien, ist weit verbreitet in China. Immer wieder fordern Nationalisten, Peking solle sich die gestohlenen Gebiete zurückholen.
„Das sind imperiale Verlustschmerzen“, sagt Historiker Sören Urbansky von der Ruhr-Universität Bochum. Zusammen mit seinem Kollegen Martin Wagner von der FU Berlin hat der Osteuropa-Experte das Buch „China und Russland – Kurze Geschichte einer langen Beziehung“ (Suhrkamp Verlag) geschrieben, das die komplizierte Geschichte der beiden Nachbarländer aufdröselt. Dazu gehört auch jenes Kapitel, das in China noch immer viele beschäftigt: wie das riesige Land im 19. Jahrhundert ein Gebiet von der vielfachen Größe Deutschlands an Russland verlor.
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China war damals noch Kaiserreich und wurde von der Qing-Dynastie beherrscht. Während sich der Westen im Zuge der Industriellen Revolution rasant modernisierte, blieb China rückständig. Den imperialistischen Bestrebungen der europäischen Mächte, die China mit Gewalt für den Außenhandel öffnen wollten, hatte das Reich der Qing nichts entgegenzusetzen.
Im 19. Jahrhundert verlor China riesige Gebiete an Russland
Nach den beiden Opium-Kriegen (1839-1842 und 1856-1860) musste China große Gebiete, vor allem im Osten des Landes, an die Siegernationen abtreten. Auch das russische Zarenreich riss sich in Chinas Nordosten riesige Ländereien unter den Nagel. Besiegelt wurde der russische Landraub in zwei „ungleichen“ Verträgen, die China zähneknirschend unterzeichnete.
Über Jahrzehnte hatte es seitdem immer wieder Streitigkeiten über den genauen Verlauf der heute mehr als 4000 Kilometer langen Grenze gegeben, die 1969 sogar in einen kurzen militärischen Konflikt mündeten. Offiziell erhebt die Regierung in Peking heute aber keine Ansprüche auf die Gebiete, zu denen auch die russische Hafenstadt Wladiwostok gehört. Im Juli 2001 hatten der russische Präsident Wladimir Putin und Chinas damaliger Staats- und Parteichef Jiang Zemin in Moskau einen Freundschaftsvertrag unterzeichnet, in dem der Verzicht auf jegliche Ansprüche ausdrücklich festgehalten wurde.
„Der Verlauf der gemeinsamen Grenze wurde zwar völkerrechtlich bindend und abschließend geregelt“, sagt Historiker Urbansky. „Für viele Chinesen ist das Kapitel aber noch nicht abgeschlossen.“ Urbansky verweist in dem Zusammenhang auch auf Chinas Ansprüche auf Taiwan, den demokratisch regierten Inselstaat, den Peking notfalls mit Gewalt an die Volksrepublik angliedern will. „Taiwan hat nur einen Bruchteil der Größe jener Gebiete, die China einst an Russland verloren hat“, sagt er. Angesichts der Vehemenz, mit der Peking Taiwan gegenüber auftrete, scheine es abwegig, dass China die heute russischen Gebiete einfach so aufgeben wird.
„Das Gefühl, dass diese Gebiete chinesisch sind, wird in China ganz bewusst gepflegt“
„Ich glaube nicht, dass China übermorgen in Sibirien einmarschiert“, sagt der Historiker dennoch. Dagegen spreche schon die Tatsache, dass Russland und China Atommächte sind. Ein Konflikt wäre heute, anders als Mitte des 19. Jahrhunderts, absolut verheerend. „Aber das Gefühl, dass diese Gebiete eigentlich chinesisch sind, wird in China ganz bewusst gepflegt.“ So werde der Verlust etwa in Museen und Schulbüchern thematisiert. „Und der Verlustschmerz könnte im Falle einer Abkühlung des bilateralen Verhältnisses durchaus von der chinesischen Führung instrumentalisiert und gegen Moskau gerichtet werden.“
Die Beziehungen zwischen China und Russland werden derweil immer enger. 2024 stieg der Handel zwischen beiden Ländern auf ein Allzeithoch von fast 240 Milliarden US-Dollar. Diese Nähe ist allerdings nicht jedem in Russland geheuer. Denn Putin ist spätestens seit Beginn des Ukraine-Kriegs Xi Jinpings Juniorpartner – ohne die Rückendeckung aus Peking hätte Russland seinen Angriffskrieg wohl keine drei Jahre durchhalten können.
Auch in Russlands Fernem Osten spüren die Menschen längst die Übermacht der Chinesen. Vor anderthalb Jahren sicherte sich China beispielsweise weiteren Zugriff auf den Hafen von Wladiwostok, seitdem können auch Waren aus Chinas Nordostprovinz Jilin darüber verschifft werden. Zudem interessieren sich chinesische Firmen vermehrt für Rohstoffe in der Region. Russlands Ferner Osten, so befürchten dort viele, könnte eines Tages wieder chinesisch werden. Ganz ohne, dass China Truppen über die Grenze schicken muss.