Asyl-Wende angekündigt: Grenz-Recherche offenbart irres Schlupfloch

Die Grenzkontrollen sind scharf. Mit der Weisung von Bundesinnenminister Alexander Dobrindt von vergangenem Mittwoch weist die Bundespolizei nun auch Asylsuchende an der Grenze ab und schickt sie in das Land zurück, aus dem sie unerlaubt einreisen wollten. An einem bayerischen Grenzübergang wird jedoch das planerische und rechtliche Chaos deutlich. Das hat auch Konsequenzen für deutsche Staatsbürger.

Migranten könnten die Kontrollstation einfach umgehen

Die österreichische Autobahn 8 mündet bei Suben in die deutsche Autobahn 3, sobald der Grenzfluss Inn überquert ist. Es folgt eine Auf- und Abfahrt auf die Bundesstraße 512 nach Neuhaus am Inn oder auf die Bundesstraße 12 nach Pocking. Erst einige Kilometer später kommt auf dem Autobahnparkplatz Ottal-Ost die große Polizeikontrolle.

Das wirft das erste Problem auf: Migranten könnten die Kontrollstation einfach umgehen. Ein Selbstversuch von FOCUS online am Freitag zeigte, dass die Kontrollstation an der Abfahrt auf die Bundesstraße unbesetzt war und niemand die Autos kontrollierte.

Beamten gehen von Einreise aus - obwohl gar keine Grenze überquert wurde

Auf der anderen Seite können Autofahrer über die umliegenden Orte auf die Autobahn fahren und in die Grenzkontrolle geraten, obwohl sie gar keine Grenze überquert haben. Wie der Selbstversuch zeigt, gehen die Beamten trotzdem von einer Einreise aus. Das bedeutet in der Folge, dass sie Migranten den Versuch einer unerlaubten Einreise aus Österreich nicht zweifelsfrei nachweisen können. Sie könnten sich theoretisch schon zuvor in Deutschland aufgehalten haben.

Der Unterschied ist wichtig. Denn nur bei einer versuchten unerlaubten Einreise können die Bundespolizisten eine schnelle Zurückweisung in die Wege leiten. Ist die unerlaubte Einreise bereits erfolgt, müssen sie das deutlich aufwendigere Verfahren für eine Zurückschiebung einleiten. Angesichts der Weisung aus dem Bundesinnenministerium könnte das heikel sein, obwohl die Kontrollstelle bereits seit mehreren Jahren besteht.

Infokasten zu Grenzkontrollen

Auch für deutsche Staatsbürger ist die Situation an der Kontrollstelle unklar. Bei einer Einreise aus Österreich müssen auch sie ein Ausweisdokument mit sich führen. Sonst begehen sie eine Ordnungswidrigkeit, die bis zu 5000 Euro kosten kann. Reisen sie jedoch im Land, gibt es keine Pflicht, den Personalausweis oder Reisepass mit sich zu führen. Wenn also Anwohner oder Inlandstouristen über die deutschen Bundesstraßen auf die Autobahn fahren und in die Grenzkontrolle geraten, geht die Bundespolizei trotzdem von einer Einreise aus Österreich aus. Auch das hat der Selbstversuch gezeigt.

Nur bei einer versuchten unerlaubten Einreise können die Bundespolizisten eine schnelle Zurückweisung in die Wege leiten.
Nur bei einer versuchten unerlaubten Einreise können die Bundespolizisten eine schnelle Zurückweisung in die Wege leiten. FOCUS online

Zurückweisungen könnten an dieser Stelle seit Jahren unrechtmäßig erfolgt sein

Die Zurückweisungen der Polizei könnten an dieser Stelle seit Jahren unrechtmäßig erfolgt sein, weil ein Verfahren zur Zurückschiebung notwendig wäre. Für die neue Grenzpolitik würde das ein Mega-Schlupfloch bedeuten, wenn Migranten auf einer so frequentierten Strecke durch die Lage des Kontrollpunkts nicht zurückgewiesen werden können. Hinter vorgehaltener Hand sagen Bundespolizisten bislang: "Wer klug ist und unerlaubt einreisen will, fährt nicht auf der Autobahn." Doch genau das könnte dann "klug" sein.

Allerdings gibt es rechtlich gesehen einen Spielraum, wann eine Einreise noch als versucht oder abgeschlossen gilt. Im Aufenthaltsgesetz steht dazu: "An einer zugelassenen Grenzübergangsstelle ist ein Ausländer erst eingereist, wenn er die Grenze überschritten und die Grenzübergangsstelle passiert hat." Die heikle Frage ist nun, ob der Kontrollpunkt 7,5 Kilometer von der Grenze entfernt noch als Übergangsstelle gewertet werden kann. Insbesondere, da es bereits vorher eine inländische Auf- und Abfahrt gibt.

Mögliches Schlupfloch

Hinzu kommt ein weiteres mögliches Schlupfloch. Eine Zurückweisung bei unerlaubter Einreise an Grünen Grenzen abseits regulärer Grenzübergänge könnte ebenfalls nicht erlaubt sein, wie der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags bereits 2018 festhielt: "Bestehen keine Grenzübergangsstellen, so ist gemäß § 13 Abs. 2 S. 3 'ein Ausländer eingereist, wenn er die Grenze überschritten hat.' Die Möglichkeit der Fiktion der Nichteinreise nach  § 13 Abs. 2 S. 1 und 2 AufenthG ist somit in diesen Fällen verschlossen."

In der Weisung an die Bundespolizei schreibt Bundesinnenminister Dobrindt explizit, dass die Fiktion der Nichteinreise nach Möglichkeit gewahrt werden soll. Was er damit genau meint, bleibt daher unklar. Eigentlich regelt sie laut Wissenschaftlichem Dienst des Bundestags, dass keine Einreise vorliegt, wenn der Ausländer unter Kontrolle der Grenzbehörde die Grenzübergangsstelle nur vorübergehend für die Entscheidung über eine Zurückweisung passiert.  

Zurückweisungen wie auf der A3 hält Constantin Hruschka, Professor für Sozialrecht an der EH Freiburg mit Schwerpunkt Grundrechtsschutz an Grenzen, für problematisch. Er nennt als weiteres Beispiel eine Kontrollstelle am Grenzübergang von Bregenz Richtung München, die hinter der Abfahrt Lindau liege. Im Gespräch mit FOCUS online führt Hruschka aus: "Der Europäische Gerichtshof sagt, eine Einreise ist erfolgt, wenn die Grenzlinie überschritten ist." Das treffe auf die beiden Grenzübergänge eindeutig zu.

An zahlreichen kleinen Grenzen gibt es keine Kontrollpunkt

Wie FOCUS online dokumentiert hat, gibt es an zahlreichen kleinen Grenzen keine Kontrollpunkte, die ein unerlaubt Eingereister passieren könnte. Damit könnten selbst mit der neuen Weisung ebenfalls keine Zurückweisungen möglich sein, wenn ein Migrant im Inland aufgegriffen wird. Denn die Fiktion der Nichteinreise könne die Bundespolizei nur anwenden, wenn eine Grenzübergangsstelle erkennbar sei, sagt Hruschka. Er geht sogar einen Schritt weiter und verweist auf die Gerichtsurteile: "Innerhalb der Schengenraums ist keine Fiktion der Nichteinreise möglich."

Und die gesamte deutsche Grenze durchgehend zu überwachen, ist für die Bundespolizei selbst mit einem hohen Personalaufwand und angesichts der fehlenden technischen Ausrüstung unmöglich.

Experte: "Keine Möglichkeit, bei einer Schleierfahndung im Hinterland zurückzuweisen"

Die Bundespolizei setzt daher auf flexible und mobile Kontrollen. Doch laut Hruschka sind Zurückweisungen selbst mit dem Rückhalt aus dem Bundesinnenministerium rechtlich fragwürdig. "Es gibt keine Möglichkeit, bei einer Schleierfahndung im Hinterland zurückzuweisen", sagt Hruschka.

Relevant ist in diesem Zusammenhang auch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) aus dem Vorjahr. Im Jahr 2018 wollte der damalige CSU-Bundesinnenminister Horst Seehofer schon einmal das Grenzregime verschärfen. Geflüchtete, die von der Bundespolizei innerhalb von 48 Stunden nach der Einreise aufgegriffen wurden, sollten ohne ein Asylverfahren per Flugzeug zurück nach Griechenland – auch wenn sie schon deutsches Territorium betreten hatten. Nachdem mehrere deutsche Gerichte dieses Vorgehen für rechtswidrig hielten und die Menschen zurück nach Deutschland geholt werden mussten, bestätigte der EGMR grundsätzlich die Rechtswidrigkeit. 

Deutschland musste dem Kläger 8000 Euro zahlen, Griechenland 6500 Euro. Der Mann lebt inzwischen in Deutschland. Zu den Ausführungen zählten auch die damals problematischen rechtlichen Situationen in Griechenland, wodurch eine ebenfalls rechtswidrige Ketten-Zurückschiebung drohte.

Einige Experten halten Dobrindts Weisung selbst für rechtswidrig

Das könnte auch Zurückweisungen in Nachbarländer, wo aktuell nur eingeschränkt Asylverfahren ermöglicht werden oder Ketten-Zurückweisungen drohen. Rechtsprofessor Hruschka: "Zurückweisungen in die Niederlande und nach Polen sind problematisch." Denn den Zugang zu einem Verfahren müsse es nach deutschem, europäischen und internationalem Recht geben. . Genauso könnten die einseitigen Zurückweisungen nach Rechtsprechung des EGMR rechtswidrig sein. Das müssen im Zweifel wieder einmal die Gerichte entscheiden.

Für die Bundespolizei, die in den vergangenen Tagen wiederholt auf Rechtssicherheit gepocht hatte, könnten die Zurückweisungen von Asylsuchenden damit zusätzlich schwierig werden. Einige Experten halten Dobrindts Weisung selbst für rechtswidrig, manche wiederum für legitim. Klarheit können auch hier nur die Gerichte bringen, wenn gegen das Vorgehen geklagt wird.

Hochprofessionelles Vorgehen der Bundespolizisten

FOCUS online hat die Bundespolizei kurzfristig um eine Erklärung zur rechtlichen Situation an der Kontrollstelle auf dem Autobahnparkplatz gebeten. Die Antwort steht zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch aus und wird nachgereicht.

Klar ist: Bei den Recherchen ist FOCUS online das hochprofessionelle Vorgehen der Bundespolizisten aufgefallen, die ihren schwierigen Job offensichtlich mit der nötigen Sorgfalt und Menschlichkeit erfüllen. Doch, auch das legen die Recherchen nahe, es gibt noch Handlungsbedarf für die Verantwortlichen in Berlin.