Junger Mann war zuvor „selbstständig und gesund“ – Forscher entdecken neue, unheilbare Erkrankung
Ein 18-Jähriger kann plötzlich nicht mehr laufen und sieht doppelt. Mediziner entdecken bei ihm eine bisher unbekannte Autoimmunkrankheit, die das Kleinhirn angreift.
Hannover – Man stelle sich vor, anstatt einen zu beschützen, ist es ausgerechnet der Leibwächter, der einen angreift und verletzt. Abstrakt darf man sich in etwa so Autoimmunerkrankungen vorstellen. Im Irrglauben, Krankheitserreger zu bekämpfen, geht das Immunsystem gezielt gegen den eigenen Körper vor. Im Falle eines 18-Jährigen greift es das wichtige Kleinhirn an – und zersetzt es rasant.
Bisher unbekannte Autoimmunkrankheit attackiert Kleinhirn
Er kann nicht mehr sicher gehen, hat Schwierigkeiten, sich klar auszudrücken und seine Sehkraft verschlechtert sich rapide: Dass ein zuvor körperlich und geistig fitter 18-Jähriger mir nichts, dir nichts so gravierende gesundheitliche Probleme zeigt, verblüfft auch die Medizin.
Zunächst fällt der Verdacht auf virale oder bakterielle Erkrankungen, nachdem die aber nicht gefunden werden können, werden weitere Untersuchungen durchgeführt. Ein Bluttest brachte schließlich die Antwort: Der 18-Jährige leidet an einer Form von zerebellärer Ataxie, wie das Fachteam der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) in einem Bericht feststellte. Diese neurologische Störung im Kleinhirn wird durch bestimmte Autoantikörper verursacht und gilt als Autoimmunerkrankung.
Was ist eine Autoimmunkrankheit?
Aufgrund einer Fehlfunktion greift das Immunsystem statt schädlicher Zellen und Stoffe fälschlicherweise gesunde körpereigene Strukturen an. Die Abwehrstoffe können nicht zwischen körpereigenen und fremden Stoffen unterscheiden, Entzündungen oder eine degenerative Wirkung können dadurch entstehen. Chronische Krankheiten sind die Folge. Zu den bekanntesten Krankheitsformen zählen die chronische Darmerkrankung Morbus Crohn, Multiple Sklerose oder Diabetes Typ 1. Autoimmunerkrankungen begleiten Betroffene ein Leben lang.
Quelle: MSD Manual
Die Krankheit ruft eine schwere Entzündung in dem Gehirnbereich hervor, der unter anderem für die menschliche Bewegung verantwortlich ist. „Dieses wichtige Areal im hinteren Teil des Gehirns koordiniert sozusagen als Dirigent unsere Bewegungen und hält uns im Gleichgewicht“, so die MHH auf ihrer Website.
In nur zwei Wochen: Entzündung im Hirn greift um sich und lässt es schrumpfen
Neben dem 18-Jährigen stellte das medizinische Team um Professor Dr. Kurt-Wolfram Sühs bei drei weiteren Patienten die gleiche Krankheit fest. Im Gegensatz zu den bisher bekannten Formen der zerebellären Ataxie, schreitet diese neu entdeckte Form extrem schnell voran. Innerhalb von zwei Wochen zeigte ein Patient starke Symptome.
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Zu den motorischen und sensorischen Problemen kamen starke visuelle Symptome hinzu, der Patient begann plötzlich, Doppelbilder zu sehen. MRT-Untersuchungen zeigten zudem, dass das Kleinhirn der Betroffenen deutlich an Substanz verloren hatte. Die Forschungsergebnisse wurden in der Fachzeitschrift Journal of Neurology, Neurosurgery & Psychiatry veröffentlicht.
Neue Autoimmunerkranung bis jetzt nur bei jungen Menschen festgestellt
Die Ursache dieser speziellen Form der Autoimmunerkrankung ist bisher noch unklar. Das Forschungsteam der MHH vermutet, dass sowohl Tumore und Schlaganfälle sie auslösen können, als auch eine Verbindung zur individuellen Genetik besteht. Letzteres könnte erklären, warum die Krankheit bisher vor allem bei jüngeren Menschen festgestellt wurde, da das Risiko eines Schlaganfalls mit dem Alter eher steigt.

Keiner der vier untersuchten Patienten war älter als 34 Jahre. Es gab keine Hinweise auf Vorerkrankungen. „Die Betroffenen waren vor Ausbruch der Erkrankung selbstständig und gesund“, betont Forschungsleiter Sühs in seinem Bericht. Daher fehlt bisher auch eine gezielte Therapieform für die Krankheit.
Eine Behandlung mit entzündungshemmenden Medikamenten hat jedoch den Zustand der vier Patienten nachhaltig verbessert, so der Neurologe. Das verwendete Medikament war Rituximab, ein bewährter Wirkstoff bei Immunerkrankungen.
Wie ein Trojanisches Pferd – Risiko an Folgeerkrankung steigt mit Behandlung von Autoimmunkrankheiten
Autoimmunerkrankungen sind in der Regel schwer zu behandeln und bisher unheilbar. Aktuelle Studien deuten darauf hin, dass eine Corona-Erkrankung bestimmte Autoimmunkrankheiten verstärken könnte. Es ist auch noch unklar, warum überwiegend Frauen von Autoimmunerkrankungen betroffen sind.
Eine spezielle Form der Blutwäsche kann eine solche Fehlfunktion des eigenen Immunsystems nur unterdrücken, und das auch noch „relativ ungezielt“, erklärt Neurologe Sühs. Doch häufig sind Betroffene besonders anfällig für weitere Erkrankungen, da bei der Behandlung Medikamente genutzt werden, die das Immunsystem entkräften. Dadurch würde zwar die fehlerhafte Bekämpfung gesunder Zellen gemindert, aber auch schädlichen Zellen Tür und Tor geöffnet. Viele Betroffene erkranken an Krebs.
Doch wie bei Krebs auch ist eine frühzeitige Entdeckung von Autoimmunerkrankungen imminent. „Der frühzeitige Nachweis von Autoantikörpern kann für die Diagnose dieser schnell fortschreitenden Kleinhirnentzündung und einer sofortigen Behandlung entscheidend sein“, betont der Experte. (rku)
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