„Der Acht-Stunden-Tag ist mir heilig“ – Arbeiter rechnen mit Merz-Plänen ab

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Neue Arbeitszeitregelung, Rente ab 70 und fehlende finanzielle Entlastung im Alltag: Arbeitnehmer sehen dringenden Handlungsbedarf bei Merz und Regierung.

Über 100 Tage ist die neue Regierung mittlerweile im Amt. 100 Tage, die von Bundeskanzler Friedrich Merz und seinem Kabinett genutzt wurden, Veränderung in der Bundesrepublik anzustoßen oder zumindest Ideen vorzuschlagen. Das Sofortprogramm der Regierung umfasst unter anderem einen Wirtschaftsschwerpunkt, aber auch die Kernpunkte Soziales und Rente. Die Frankfurter Rundschau von IPPEN.MEDIA hat in Industrie-Unternehmen nachgefragt – nicht bei den CEOs, sondern bei Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmern und bei Betriebsräten: Werden sie tatsächlich von der neuen Regierung entlastet? Und wie zufrieden sind sie mit Merz und Co.?

Merz‘Arbeitszeitregelung unter Kritik: Auf dem Bau arbeiten die meisten bereits recht flexibel

Klaus Brunken (60) aus NRW, arbeitet als Hochbaupolier bei Ingenieur-Baubetrieb Karl-Heuck in Krefeld:Bei der Vorgänger-Regierung fand ich gut, dass sie Tariftreueregelung angehen wollten. Das will die neue Regierung zwar auch, aber da ist keinerlei Energie drin. Stattdessen wird es auf die lange Bank geschoben.

Über Aussagen, wie ‚die Leute hierzulande arbeiten zu wenig‘, kann ich dann nur den Kopf schütteln. Getoppt wird das von Ideen zur Arbeitszeitregelung. Die war vorher recht gut und wir hatten bereits die Möglichkeit zehn Stunden zu arbeiten. Jetzt soll es auf eine flexible Stundenregelung hinauslaufen. Das halte ich allein aufgrund der fehlenden Kontrollmöglichkeit für schwierig. Eine digitale Arbeitszeiterfassung wollen Arbeitgeber in der Baubranche partout nicht. Und ich sag’ mal: Der Acht-Stunden-Tag ist mir eigentlich heilig. Hatte meine Tochter Geburtstag, war der Kuchen oft schon halb gegessen, wenn ich heimkam. Sollte an der jetzigen Arbeitszeitregelung gerüttelt werden, dann wirds vielleicht eher so wie früher, wo die Kinder schon am Schlafen sind, wenn man mit der Arbeit fertig ist.

Sollte daran gerüttelt werden, dann wirds vielleicht eher so wie früher, wo die Kinder schon am Schlafen sind, wenn man mit der Arbeit fertig ist. 

Wenn dann noch von einem Renteneintritt ab 70 gesprochen wird, dann mache ich mir schon Sorgen. Das wird mich nicht betreffen, aber die weiteren Generationen. Eigentlich sollte es Bestand haben, dass man nach 45 Einzahljahren abschlagsfrei in Rente gehen kann. Ich verdiene nicht schlecht. Und Menschen in Rente sollten nicht noch zusätzliche Abgaben machen müssen. Ich wäre stattdessen für eine Vermögensabgabe, wie nach der Kriegszeit, die Unternehmen dann die folgenden Jahre abschreiben können. Aber ich weiß schon: Das ist utopisch. Man kann von der Union nicht erwarten, dass Superreiche besteuert werden.

Gut finde ich die Mindestlohndiskussionen –  wichtig ist, das sollte deutlich mehr sein als Bürgergeld. Die schwarze Regierung und die Arbeitgeber sagen zwar, da geht das Abendland unter und alle müssten zu machen, aber auch in der Vergangenheit hat das schon funktioniert.“

Fehlende Aufträge in der Baubranche: Hatten „auf das Konjunkturpaket gehofft“

Markus Pohlmann (50) aus Magdeburg, Betriebsratsvorsatzvorsitzender bei Strabag:Unsere Kollegen sind an der Leistungsgrenze. Wenn man unseren Bundeskanzler Herrn Merz hört, es solle jetzt noch mehr gearbeitet werden: Es steht schon so viel Mehrarbeit an und wir arbeiten bereits nicht unbedingt im Rahmen des Arbeitszeitgesetzes. Dem muss Einhalt geboten werden. Die digitale Arbeitszeiterfassung muss eingeführt werden: Das hätten wir uns auf dem Bau gewünscht. Auch für die Kollegen, die in Büros sitzen, sich um Lieferscheine kümmern und die Abrechnungen tätigen, ist es ebenso wichtig, da die Ü-Stunden nicht dokumentiert werden. Der Arbeitgeber wehrt sich allerdings vehement und setzt auf eine gesetzliche Abänderung der Politik.

Betriebsrat Strabag Markus Pohlmann
Markus Pohlmann fragt sich, wer in Zukunft Bau-Aufträge abarbeiten soll. © Fotoatelier Urban

Gleichzeitig haben wir ein massives Auftragsproblem in manchen Bauzweigen. Dabei hatten wir auf das Konjunkturpaket gehofft. Seit Anfang Juli steht aber fest: Es wird zu keinerlei Ausschreibungen bei Autobahnen oder Brückenbauprojekten in diesem Jahr kommen. Im Hochbau hängt man ähnlich in der Luft. Das angestrebte Wohnungsbau-Paket kam nicht zum Tragen. Länder sollten es umsetzen, aber das Projekt ist zum Erliegen gekommen. Wo es jetzt aufgeht, ist etwa beim Südlink-Projekt oder beim Bahnbau, da haben wir viele Kapazitäten. Andererseits: Die planen mit zwei bis drei Jahren und wir fragen uns, wer soll das alles abarbeiten? Die Babyboomer, unsere Leistungsträger, brechen weg. Und sagen zu Recht: Ich werde keine Stunde mehr als nötig arbeiten.

Mit Blick auf meine Rente kommen auch die Existenzängste schon mal auf den Tisch.

Privat, da wird sich nichts groß ändern. Der Lohn wird durch die steigenden Lebenshaltungskosten geschluckt. Und mit Blick auf meine Rente kommen auch die Existenzängste schon mal auf den Tisch, ob darauf dann nochmal mehr Steuern gezahlt werden müssen. Da muss ich auch mal sagen, Unterstützung von anderen Ländern hin oder her, aber Deutschland sollte nur so viel Geld ins Ausland geben, wie es nach Abzug der Ausgaben fürs eigene Land hat. Irgendwann muss Schluss sein. Ich kann ja selbst auch nur das Geld ausgeben, das ich verdiene.“

Hohe Steuern und Abgaben: „Lohnerhöhungen, die ich noch bekomme, spüre ich nach allen Abzügen kaum.“

Jacob Riemekasten (32) aus Dortmund, Ingenieur in der Automobilzuliefererbranche: „Ich finde es immer so schön, wenn man davon spricht, den Wirtschaftsstandort Deutschland zu stärken. Aber was wir gerade sehenden Auges miterleben, ist das Ende einer Schlüsselindustrie. Es herrscht Zurückhaltung und ich habe weder das Gefühl, dass investiert wird, noch, dass sich etwas nach vorne bewegt. Stattdessen bauen wir weiter ab. Ich gucke mit Sorge in die Zukunft. Ich arbeite gerne, ich arbeite auch gerne für gutes Geld, was mir aktuell gezahlt wird. Der Fokus geht aber immer mehr auf billig, billiger, am billigsten.

Seit 13 Jahren arbeite ich in Vollzeit, seit acht als Ingenieur und mindestens 30 Jahre muss ich noch. Die Diskussion um Rentenalter und Rentenbeiträge ist schwierig und unangenehm. Deshalb wollte man in der Politik lange nicht darüber reden. Aber ich mache mir keine Illusion, vermutlich muss ich auch arbeiten, bis ich 70 bin und mit meinen steigenden Rentenbeiträgen, für mehr Rentner sorgen. Wir brauchen deshalb eine Entlastung, die bei allen Einkommensgruppen ankommt. Lohnerhöhungen, die ich noch bekomme – was schon ein Luxus ist – spüre ich nach allen Abzügen kaum.

Jacob Riemekasten, Ingenieur
Jacob Riemekasten arbeitet als Ingenieur in der Automobilzulieferbranche. © Jacob Riemekasten

Und so wie sich die Branche gerade auch in Hinblick auf die USA und den Weltmarkt entwickelt, wird Deutschland als Standort für Automobilindustrie irgendwann wegfallen. Ansässige Automobilfirmen hier wollen günstiger einkaufen und gehen lieber ins Ausland. Realistisch gesehen werde ich woanders eine Tätigkeit finden, wenn es mal dazu kommt, dass meine Stelle gestrichen wird. Aber das, was ich mache, macht mir ja Spaß. Und natürlich könnte man alle Arbeitnehmer aus der Industrie auf den Dienstleistungssektor umschulen lassen und etwa das Pflegeproblem lösen. Aber da bin ich sicherlich nicht alleine, wenn ich sage, dass mir ein sozialer Beruf nie richtig gelegen hat. Und es gibt bereits Länder, die darin schneller, besser und billiger sind. Stattdessen müssen wir uns überlegen, ob wir riskieren wollen, dass es uns in ein paar Jahren so geht, wie in den USA. Da stellt man gerade fest, dass man nicht mehr das nötige Wissen hat, um im eigenen Land zu produzieren.“

Ansagen von Merz, Reiche und Co.: „Wir haben schlichtweg nicht genug Leute, die das abfangen.“

Bettina Reckert (57) aus Remscheid, gelernte Industriekauffrau, Betriebsrätin beim Automobilzulieferer Edscha: „Als Automobilzulieferer, der auch international arbeitet, sehen wir Verschiebungen. Wir sind an meinem Standort mal etwa 1600 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gewesen, jetzt nur noch rund 180. Vieles wurde um- und ausgelagert. Als Arbeitnehmer schaut man da mit Sorge auf das, was gerade am Markt passiert. Dabei verpasst die Regierung zu erkennen, dass wir diejenigen sind, die in Werken mit Herz und Hand alles umsetzen.

Betriebsrätin Bettina Reckert
Bettina Reckert kann die Diskussionen um flexible 8-Stunden-Tage nicht nachvollziehen. © Bettina Reckert

Wir müssen schauen, die Stellen auch zu halten. Wenn hier jemand in Rente geht, wird der Job in der Regel nicht wieder besetzt, sondern, wenn überhaupt, ins Ausland verlegt. In die sogenannten Best-Cost-Countries, wobei ich Low-Cost-Countries sagen würde. Damit untergräbt man die Basis und wir haben keine Chance, das mitzubestimmen.

Stattdessen spricht die Regierung von einem flexiblen 8-Stunden-Tag. Eine ganz klare Aufweichung des Arbeitsschutzgesetzes. Dabei haben wir bereits seit Jahrzehnten Gleitzeit und ein flexibles Stundensystem. Ich hab auch mal 12 Stunden gearbeitet, wenns notwendig war, aber wenn man das länger macht, da bleibt das Leben und die Gesundheit auf der Strecke. Wir haben schlichtweg nicht genug Leute, die das abfangen. Das passt alles nicht zusammen. Und dann schaut man in die Parteien und was die planen – ich rede jetzt nicht über Merz – aber wir hätten ein riesiges Problem, wenn jeder mit Migrationshintergrund plötzlich wegfiele. 

Was Arbeitnehmer brauchen ist Mitbestimmung und Einflussnahme, gerade wenn man auf die Politikerinnen und Politiker schaut, die durchblicken lassen, wie praxisfremd sie sind. Es ist ein Märchen: Wenn man Unternehmen unterstütze, tue das den Mitarbeitern gut. Das tut allein den Aktionären gut. Und die sollen gerne ihr Geld bekommen. Aber wieso muss jemand, der wirklich arbeitet, so hohe Lohnsteuern zahlen. Und andere, die nicht für ihr Einkommen arbeiten, zahlen weniger. Und damit meine ich eben nicht diejenigen, die Bürgergeld bekommen, sondern den oberen Teil der Gesellschaft. Da sind Milliarden möglich. Das Grundgesetz sagt: Eigentum verpflichtet und sein Gebrauch soll dem Wohl der Allgemeinheit dienen.“

Die Arbeitnehmer werden von Merz vergessen: „Die ganze Politik ist auf große Unternehmen ausgerichtet“

Hermann Soggeberg (57) aus Hamburg, Betriebsratsvorsitzender bei Unilever: „Seit Jahren erlebe ich Umstrukturierungen. Als ich bei Unilever anfing, waren es rund 30.000 Beschäftigte in Deutschland – jetzt sind es nicht mal mehr 3000. Was sich das Kollegium wünscht, ist Arbeitsplatzsicherheit und eine sichere Rente. Zudem ein vernünftiges Gehalt für die gelistete Arbeit. Stattdessen wird in der Regierung über mehr Flexibilität gesprochen und darüber, dass die Leute mehr arbeiten müssten. Dabei sollte gerade jetzt, in Zeiten von Digitalisierung und KI-Entwicklung, doch mal darüber gesprochen werden, die Arbeitszeiten zu verkürzen, nicht zu verlängern.

Die ganze Politik ist aktuell sehr stark auf große Unternehmen ausgerichtet: Es gibt Entlastung für Unternehmen mit noch mehr Abschreibungsmöglichkeiten und einer Stromsteuersenkung, die eigentlich für alle kommen sollte. Währenddessen werden in Unternehmen Arbeitsstellen abgebaut, obwohl es große Probleme beim Fachkräftemangel gibt. Und die Verschuldung wird dadurch refinanziert, dass Sozialleistungen gestrichen werden. Wir brauchen mehr Möglichkeiten zur Mitbestimmung. Um als Arbeitnehmer mehr Sicherheit zu haben, wenn es um Investitionen oder Umstrukturierung geht. Sowohl auf deutscher als auch internationaler Ebene.“

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